Nachdem die »Lieder der Ersten Zeit« mehr Zuspruch gefunden haben, als ich zu hoffen wagte, habe ich eine Arbeit in Angriff genommen, deren Schwierigkeit mir von Anfang an klar war: die Ursprünge und Quellen unseres alten Liedgutes zu erforschen. Die Erste Zeit, wie sie in unserer Geschichtsschreibung genannt wird, ist ja nicht im strengen Sinne die erste; sie beginnt mit der Vereinbarung von Oasis, als nach Beths Tod ein Kompromiß zwischen den Schiffbauern und der wachsenden Zahl ihrer Gegner geschlossen wurde. Nachdem eine Mehrheit zu dem Schluß gekommen war, daß der Bau des Neuen Schiffs zu viele Ressourcen von der Festigung unserer Zivilisation abzog, beschloß man, die Arbeiten daran zunächst einzustellen und stattdessen das Alte Schiff für einen erneuten Flug aus- und umzurüsten, nun schon mit dem auf Gedon entwickelten verbesserten Antrieb. Die Erste Zeit wird üblicherweise bis zu dem Jahr gerechnet, in dem – nach dem Neustart des Alten Schiffs, der folgenden längeren Pause, die vor allem für das klimatechnisch dringend gewordene Großprojekt der Ozeanverbindungen benötigt wurde, und der Wiederaufnahme des Schiffbaus – schließlich auch das Neue Schiff seine Reise antrat (dem erst deutlich später weitere folgen sollten).
Das alles ist natürlich allgemein bekannt, ich erwähne es nur, weil die verstörende Entdeckung, von der ich berichten will, unmittelbar damit zusammenhängt. Schon vor dem Umbau des Alten Schiffs war alles, was sich in seinen Datenbanken befand, mehrfach kopiert worden, nicht zuletzt, um es dem Neuen Schiff zur Verfügung zu stellen; zudem hatte man auch alle erreichbaren Informationen über das Leben im Schiff und den Beginn der Besiedlung zusammengestellt, vieles sogar zur Verwendung im Totaloskop eingerichtet. Das letztere hat man dann später den Schiffen doch nicht mitgegeben, aber gerade dieses Material eignete sich hervorragend für mein Vorhaben: Welche von den Liedern der Ersten Zeit sind schon an Bord des Schiffes oder von den ersten Siedlern gesungen worden? Welche von ihnen sind ganz originale Schöpfungen, welche beruhen auf Vorbildern, die die Schiffsgeborenen in der irdischen Überlieferung gefunden hatten? Was letztere betrifft, so wurde ich des öfteren fündig.
Metalyse
Jerek erk SigmonSo geht das alte Lied, welches meistens (so auch in meiner Sammlung) als »Hymne des Planeten Andymon« bezeichnet wird – obwohl unsere Welt niemals eine offizielle Hymne hatte oder brauchte –, mit einigen Textteilen auf ein Gedicht oder Lied zurück, welches in einem kleinen, kurzlebigen Staatsgebilde in der zweiten Hälfte des irdischen 20. Jahrhunderts, also kurz vor dem Ende der uns überlieferten irdischen Geschichte, tatsächlich als Hymne gedient hat, allerdings noch viel kürzere Zeit, als jener Staat bestand. Ich habe vergeblich versucht, die damals verwendete Melodie zu ermitteln, auch nach möglichen Textvarianten geforscht, indem ich im räumlichen und zeitlichen Umfeld jenes ephemeren Staates nach charakteristischen Wörtern und Formulierungen der ursprünglichen Hymne suchen ließ. Ob ich nun einen Eingabefehler gemacht oder mich bei dem Suchauftrag ungenau ausgedrückt hatte, jedenfalls bezog die KI auch Passagen aus unserer »Hymne« in die Recherche ein und meldete einen Treffer bei einem Suchbegriff, nach dem zu fragen mir nicht im Traume eingefallen wäre: bei dem Wort »Andymon«.
Wir alle haben mindestens in der Schule Beths Bericht gelesen, der – zumeist unter dem etwas willkürlichen Titel »Beths Testament« – zu Recht als das Grunddokument unserer Geschichte gilt, und kaum jemand wird die Stelle vergessen haben, wo zu Beginn des zweiten Teils auf dem Hauptschirm des Schiffes vor dem gestirnten Himmel der Name »ANDYMON« auftaucht, schon damals eine Legende. Und nun zeigte sich, daß der Name unseres Planeten weder aus den Tiefen des Alls noch aus den Tiefen der Schiffsintelligenz aufgetaucht ist, sondern aus den Tiefen der irdischen Geschichte (beziehungsweise, wenn man die Umstände bedenkt, eher aus einer ihrer Untiefen). Das wäre eine bemerkenswerte Entdeckung gewesen und eine Bereicherung unserer Geschichtswissenschaft. Wenn es denn dabei geblieben wäre.
Es ist aber nicht dabei geblieben. Denn was die suchende KI in den Datenbanken des Alten Schiffes – genauer gesagt, in einer vollständigen Kopie davon – gefunden hat, ist ein Buch aus dem Jahre 1982 irdischer Zeitrechnung. Es heißt »Andymon«. Und es enthält den Bericht Beths, sein »Testament«, das Grunddokument unserer Geschichte. Vollständig. Von »Es gibt eine Reihe von Fragen, die sich der Mensch wieder und wieder stellt« bis »Es ist alles nur ein Anfang.«
Schon als ich, um das festzustellen, den Text überflog, drängten sich mir – noch ehe ich die betreffenden Stellen erreicht hatte – die Passagen in der Mitte des ersten Teils auf, die mich schon immer fasziniert hatten: wo die Schiffsgeborenen spekulieren, ob es die Erde überhaupt gibt, ob es wenigstens das Schiff gibt oder vielleicht eine endlose Folge von Schiffen oder ob etwa ihre ganze Existenz eine Simulation wie im Totaloskop ist … Was ich nun gefunden hatte, übertrumpfte an Extravaganz jedes dieser Gedankenspiele. Natürlich habe ich mich keinen Augenblick lang der Idee hingegeben, wir alle mitsamt unserer Welt seien nur der Inhalt irgendeines obskuren Buches – daß derlei Vorstellungen zu nichts führen, ist offensichtlich. Aber ebenso offensichtlich ist nun, daß etwas an unserer Überlieferung nicht stimmt, seien es die Informationen in den Datenbanken des Schiffes oder in den angefertigten Kopien, seien es die Nachrichten aus der Anfangszeit der Besiedlung.
Ich habe also meine Arbeit an unserem alten Liedgut beiseite gelegt und alle verfügbaren Möglichkeiten der Recherche ausgeschöpft, um das überaus beunruhigende Problem zu klären oder wenigstens einzugrenzen. Folgendes habe ich herausgefunden:
Das mysteriöse Buch erscheint in sämtlichen Kopien, die von den Datenbanken des Alten Schiffes genommen wurden – soweit es vollständige Kopien sind –, und sogar in zwei verschiedenen Sprachen. Der Wortlaut – bzw. im Vergleich der beiden Sprachen der Inhalt – ist überall derselbe.
Dieser Wortlaut aber weicht, wie eine genauere Betrachtung ergab, an mehreren Stellen von Beths Testament ab. Letzteres nun ist so oft kopiert und zitiert worden, daß über den authentischen Text kein Zweifel bestehen kann. Zudem enthält der Text aus den Schiffsdatenbanken – ich will ihn den »Buchtext« nennen – Details, die ganz offensichtlich unhistorisch sind. So werden dort gelegentlich der Resth-Intrige mehrfach Gewehre erwähnt, mit denen Resth seine Anhänger bewaffnet haben soll; in Beths Bericht gibt es nichts dergleichen und kann es zu diesen Zeitpunkt auf Andymon auch nicht gegeben haben. Jenes kleine, kurzlebige Land aber, wo der Buchtext gedruckt worden sein soll, war zu jenem Zeitpunkt – wie meine Recherchen in den Datenbanken ergeben haben – geradezu krankhaft auf Gewehre fixiert, anscheinend wurden schon Kinder in ihrem Gebrauch unterwiesen. (Die im Alten Schiff über jenes marginale Land verfügbaren Informationen sind zu spärlich, um das mit Sicherheit sagen zu können, aber jedenfalls wurden militärische Dinge in einem damals eigens neu eingeführten Schulfach unterrichtet.)
So ergeben sich anscheinend unerklärliche (und jedenfalls, wie ich feststellen muß, unerklärte), aber merkwürdig zueinander passende Koninzidenzen: Die sonderbar militaristische Verfassung jenes Landes auf der Erde kurz vor Ende der in den Datenbanken des Schiffs erfaßten Zeit, die eigenartigen Abweichungen des spukhaften Buchtextes, der in jenem Land gedruckt worden sein soll, und schließlich die »Hymne des Planeten Andymon« mit ihren Anklängen just an die Hymne ebenjenes Landes. Das alles weist doch stark auf die Hypothese, daß jemand die Datenbanken des Schiffes manipuliert hat, bevor sie mehrfach kopiert wurden, aber nachdem Beths Testament bekannt war. Auf welche Weise er oder sie das bewerkstelligt haben könnte, bleibt völlig unerfindlich, erst recht, zu welchem Zweck. Schon sehe ich neue, wüste Spekulationen ins Kraut schießen, etwa, daß eine insgeheim weiterwirkende Schiffsintelligenz die vermeintliche Vergangenheit manipuliert hat, um die Entwicklung Andymons gemäß einem uns unbekannten Plan jener zu lenken, die das Alte Schiff ausgesandt haben. Viel wahrscheinlicher ist natürlich, daß es einer der frühen Andymonier war, was freilich nicht viel erklären würde. Der einzigen Spur, die auch nur eine winzige Hoffnung auf Klärung versprach, bin ich erfolglos nachgegangen: Ich habe nichts, aber rein gar nichts über den Verfasser der »Andymon-Hymne« in Erfahrung bringen können.
Gefunden aber habe ich noch eine Erwähnung Andymons in den Schiffsdatenbanken – bzw. in deren Kopien. Kein ganzes Buch, überhaupt kein Schriftstück, sondern so flüchtig, so weit am Rande der Wahrnehmung, daß es fast nicht wahr ist. Und eigentlich auch nicht wahr sein kann. In einer Totaloskopsequenz, die anscheinend wieder in jenem Land und wieder um jene Zeit spielt, sagt ein Mann, der nicht im Bild ist, zu jemand anderem außerhalb des Bildes: »Also dann, wir treffen uns bei Andymon.« Wenn der Benutzer des Totaloskops den Kopf zu der Stimme hin wendet, sieht er einen sparsam modellierten Strom unauffälliger Passanten. Da ist jemand in ferner Vergangenheit, der nicht nur den sternengezeugten Namen unseres Planeten kennt, sondern sich mit einem anderen hier verabredet, und das sind dann nicht einfach zwei zukünftige Raumfahrer, die uns besuchen wollen, nein, sie verabreden sich ganz lässig, ganz beiläufig nicht etwa nach einer Landung, sondern irgendwo in der näheren kosmischen Umgebung, irgendwo bei Andymon. Das ist nun wirklich verstörend, es läßt am Dasein zweifeln, es übersteigt alle Vernunft, und uns bleibt nichts als der Glaube – der Glaube, daß uns hier wirklich ein Echo aus ferner Zukunft erreicht hat, in der jeder unseren Planeten kennt und man sich eben mal auf einen Katzensprung in der Gegend verabredet. Fürwahr, es ist alles nur ein Anfang.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem Band Simon & Steinmüller: „Eskapaden“ Memoranda Verlag, Berlin 2024, Illustrationen: Kulturring, Kindermedienpoint Spandau