Themenschwerpunkt Künstliche Intelligenz
Der erste Schwerpunkt des Jahrbuchs widmet sich der Künstlichen Intelligenz (KI). So enthält der Band fünfzehn Essays, die unter anderem den Vergleich zwischen KI in der Realität mit den oft rebellischen Computern und Robotern in Film und Literatur beleuchten. Dabei stellt sich auch die Frage, ob Science Fiction mit dem Einzug von KI in den Bereichen Journalismus und Social Media bereits in der Gegenwart angekommen ist.
Judith und Christian Vogt betrachten die unterschiedlichen Formen künstlicher Intelligenz wie Entscheidungsalgorithmen, Allgemeine KI und Generative KI. Sie diskutieren dabei, welche gesellschaftliche Bedeutung Künstliche Intelligenz einnimmt und stellen aber auch fest, dass Geschichten über rebellierende Maschinen niemals aus der Mode kommen werden. Denn Science Fiction, so betonen sie, „dreht sich um Menschen und ihre Beziehungen, Hoffnungen und Ängste im Wechselspiel mit Technologie.“
Dietmar Dath, bekannt für seine spekulativen und phantastischen Texte, widmet sich den Aspekten Sprache, Text und Denken. Er erörtert, ob Künstliche Intelligenzen – in der Fiktion wie in der Realität – dem sogenannten Turing-Test standhalten würden. Dieser bestimmt anhand eines Imitationsspiels, ob Maschinen denken können. Gleichzeitig weist Dath auf Lydia Morehouse hin, die in ihrem Roman „Welcome To Boy.net“ eine überzeugende Gegenargumentation liefert. Zitat Dath: „Eine einzelne smarte Sprachhandlung macht so wenig eine echte Künstliche Intelligenz wie eine Schwalbe einen Sommer.“
Der Literaturwissenschaftler Hans Esselborn untersucht den Moment der Transformation in Science-Fiction-Romanen und zeigt auf, dass der Vorgang des erwachenden Bewusstseins in fiktionalen KI-Charakteren mit den realen Technologien nicht vergleichbar ist. Während die Fiktion häufig Schreckensszenarien von Weltherrschaft entwirft, zeichnet sich in der Realität ein ganz anderes Bild ab.
Simon Spiegel bietet einen rasanten Streifzug durch die Filmgeschichte. Neben Klassikern wie „Blade Runner“ und „2001: Odyssee im Weltraum“ widmet er sich auch neueren, anspruchsvollen Produktionen – etwa „The Trouble with Being Born“, das mit dem verstörenden Sujet eines Sexroboters in der Gestalt eines zehnjährigen Mädchens aufwartet.
Neben der KI behandelt das Buch auch andere zentrale Themen der Science Fiction. Unter anderem erinnert es an den ersten KI-Roman „Die Maschine steht still“ von E.M. Forster (Autor von „Howard’s End“) und liefert spannende Betrachtungen zur Gender-Identität künstlicher Intelligenzen.
Deutschsprachige Science Fiction und weitere Entwicklungen
Im zweiten Schwerpunkt des Jahrbuchs liegt der Fokus auf der aktuellen deutschsprachigen Science Fiction. Michael Wehren präsentiert in einer Textcollage Interviews mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die neue Erzählweisen, Sprachexperimente und unerwartete Brüche im klassischen Erzählstil thematisieren. Aktuelle Themen wie Climate Fiction stehen hier ebenfalls auf der Agenda, aber auch Fragen rund um Gender, Queerness und Diversität werden behandelt. Die Autorin Lian Ay Gee behandelt vor allem Themen, die Toleranz und ein harmonisches Miteinander fördern. Aiki Mira erklärt zudem, wie das Subgenre Near Future dabei hilft, aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen aus neuen Perspektiven zu betrachten.
Ein kritischer Blick richtet sich auf die sogenannte Hard-SF, in der Technik oft den Menschen in den Hintergrund drängt. Uwe Post betont: „Eine Schwemme von Dystopien hat offenbar nicht dazu geführt, dass Menschen ihr Tun überdenken. Also probieren wir es doch mal mit etwas vorsichtigem Optimismus.“ Außerdem gewinnen erzähltheoretische Konzeptionen an Bedeutung und dazu auch wieder die Form der Kurzgeschichte – ein klarer Hinweis darauf, dass das Genre stets in Bewegung bleibt.
Ein umfassender Überblick
Ergänzt wird das Jahrbuch durch einen umfangreichen Abschnitt mit Rezensionen und Übersichtsartikeln zu deutschsprachiger Science Fiction, Kurzgeschichten, Comics, Games, Filmen und Serien. In den Nachrufen wird an bedeutende Stimmen erinnert, unter anderem an den Filmemacher Rainer Erler. Abgerundet wird der Band durch eine vollständige Bibliografie aller 2023 in deutscher Sprache erschienenen Publikationen aus dem Science-Fiction-Bereich.
Mein Fazit
Der KI-Schwerpunkt mag stellenweise etwas umfangreich wirken, doch insgesamt unterstreicht das im Hirnkost-Verlag erschienene Buch eindrucksvoll, dass Science Fiction weit mehr ist als bloße eskapistische Unterhaltung. Für meinen Bücherschrank ist dieses Werk, als intellektuelle Auseinandersetzung mit aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen wie literarischen Herausforderungen, ein absolutes Muss.