Texte über die Wende- und Nachwendezeit gibt es inzwischen zuhauf. Einige haben autobiografischen Charakter, andere sind eher theoretisch reflektierend. Auch die gesetzten Schwerpunkte sind sehr unterschiedlich. Im Kulturring läuft seit 2019 ein Projekt, das sich diesem Zeitraum widmet. Sein genauer Titel: Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain | 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Mittlerweile sind allerdings schon mehr als diese 30 Jahre vergangen und es ist nun an der Zeit für eine Würdigung dieses Projektes.
Eine Vorgabe an das Projektteam lautete damals: schreibt autobiografische Texte über diesem Wandel. Erzählt eure eigene Geschichte, macht Fotos, befragt andere Zeitzeugen, dreht Videos. Zeitgenossenschaft war also gefragt – und die gab und gibt es sowohl im Team als auch im Bezirk reichlich! Das Thema „Wandel“ hat sich nicht erledigt und die Erfahrung zeigt: Der Stoff ist dem Team immer noch nicht ausgegangen. Waren es anfangs zumeist Texte und Videos, die um Ereignisse rund um die Wendezeit kreisten, so weitete der Blick sich im Laufe der Jahre, und mittlerweile Jahrzehnte. Eine weitere Vorgabe bestand in der Dokumentation einer Bestandsaufnahme dieses Wandels und des Ist-Zustandes entlang der ehemaligen Spreegrenze im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die Website des Kulturringes verzeichnet auf einem Zeitstrahl mittlerweile 91 veröffentlichte Texte, die bis in die Gegenwart reichen. Das bedeutet, jede Menge unterschiedlichste Erfahrungen sind nun aufgeschrieben und werden damit der Nachwelt wohl für länger noch erhalten bleiben.
Was zeichnet dieses heute noch aktive Team aus? Alle Mitglieder sollten bereits längere Zeit, am besten schon seit 1989 und davor, ihren Lebensmittelpunkt in Kreuzberg und Friedrichshain gehabt haben und zu Beginn des Projektes bereits über 50 Jahre alt gewesen sein. Als besonders spannend und ertragreich erwies sich diese Voraussetzung: Es sollten sowohl Westler als auch Ostler ihre Erfahrungen austauschen und gemeinsam über die produzierten Texte miteinander diskutieren. Klar war da enormer Mitteilungsbedarf vorhanden. Die Teammitglieder wechselten zwar, trotzdem kam eine kontinuierliche Arbeit zustande. Es gab auch Kontroversen, aber vor allem war es ein sehr solidarisches Miteinander. Hätte dieses Projekt, sagen wir mal 25 Jahre, früher stattgefunden, wären die Diskussionen sicherlich viel emotionaler verlaufen. Den Anfang auf dem Zeitstrahl macht ein Text aus dem Jahr 1989 mit dem wunderbaren Titel „Nehmen Sie bitte Ihre Füße aus dem Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik“ und beschreibt eine kuriose Situation am Landwehrkanal. Einer der jüngeren Texte beschreibt auf poetische Weise das Lebensgefühl im Kiez zu Pandemie-Zeiten 2022. Sein Titel: „Das verborgene Lächeln der Maske.“
Mit den damaligen Kontaktverboten wurde zwangsläufig auch ein weiteres Projektziel gefördert: die digitale Kompetenz. Die Installation der Zoom-Leitung auf allen Rechnern, Bedienung der Applikation und Reden miteinander im Kachelformat war danach kein Thema mehr. Zeitlich zwar vor der Pandemie, aber passend zum Thema „Digitale Kompetenz“ ist 2019 noch eine Videoproduktion im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema Bezirksfusion entstanden. Was vielleicht schon in Vergessenheit geraten ist: Kreuzberg und Friedrichshain waren einmal zwei eigenständige Bezirke. Der eine lag in West-Berlin, der andere in Ost-Berlin (vor 1989: Berlin, Hauptstadt der DDR). Wie beide seit 2001 zusammengefunden haben und wie sich der Kulturring in dieser Diskussion positionierte, war Thema dieser Veranstaltung. Dabei wurde eins sehr deutlich: das unterschiedliche Politik- und Kulturverständnis in West und Ost auf lokaler Ebene. Eine sehr aufschlussreiche Veranstaltung zum Thema Wandel im Bezirk! Fazit: Dem Projekt ist es sehr gut gelungen, den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen. Insgesamt 91 sehr authentische Texte (Stand September 2023) bilden so ziemlich den gesamten Zeitraum seit der Wende ab – authentisch und vollkommen subjektiv natürlich. Und genau darauf kam es ja wohl an.