Glücklicherweise sind Kerker passé. Denn wer hockt schon gerne in einem fensterlosen Verlies? Ich schätze mich glücklich, ein Fenster zu haben. Wenn ich es öffne und hinausschaue, dann will ich am liebsten einen Turner-Himmel sehen. Stattdessen höre ich allerdings das, was mir die Lust auf den schönsten Himmel vergällt. Was ich höre, nicht bloß einmal, sondern täglich mehrere Dutzend mal, ist in seiner Dezibelstärke mit einer Vuvuzela vergleichbar. Die kennen wir noch von der Fußball-WM in Südafrika 2010.
Seit 22 Jahren lebe ich in meiner Wohnung in der Hannoverschen Straße in Mitte, mit Blick auf die Philippstraße. Dort befindet sich rechter Hand die Notaufnahme der Charité. Wohl dem, dessen Fenster schallgedämmt ist. Meins ist es nicht. Oder ist meine Hyperakusis schuld, die Überempfindlichkeit meines Gehörs? Unerträglich ist der Lärmpegel bei offenem Fenster, wenn ich lüfte. Menschen rechtzeitig an Ort und Stelle zu retten, und sie dann so rasch wie möglich der Notaufnahme zuzuführen, ist zweifelsfrei eine humanitäre Pflicht. Dumm nur, dass andere dabei Gefahr laufen, einen Hörsturz zu bekommen, weil in ihrem Rücken ohne jegliche Vorwarnung das Martinshorn erschallt. Erschallen ist da noch milde ausgedrückt. Die unvermittelt aktivierte Sirene neben dem Ohr grenzt an Körperverletzung und nimmt diese billigend in Kauf.
Hier in der Notaufnahme wurde am 22. August 2020 der Regimekritiker Alexei Nawalny nach seiner Landung in Tegel eingeliefert. Beträchtliches Medienaufgebot in der schmalen Philippstraße. Am Fenster stehend, wartete man darauf, dass dieser eine Krankenwagen vorbeikommt, in dem Nawalny auf die Tragbahre gebettet ist. Wie geht es ihm? Wird er durchkommen? Man schaut auf die Uhr. Der Wagen biegt in die Philippstraße ein und steuert die Rettungsstelle an. Wochenlang bangen wir um den Oppositionellen. Er liegt auf der Intensivstation im künstlichen Koma, wird maschinell beatmet. Sein Zustand: ernst. Der Vergiftungsverdacht bestätigt sich. Der Patient wird schwer bewacht. Nach 32-tägiger Behandlung kann Nawalny entlassen werden. Ein Aufatmen. Vorerst.
Schräg gegenüber der Notaufnahme eine zentrale Stätte studentischen Lebens, gemeinhin bekannt als das "Hexenhäuschen". Das skurril anmutende Gebäude scheint wie eine ferne Version von "Mutters Haus", die Hitchcock für seinen Film "Psycho" auch gut gefunden haben könnte. Gleich dahinter, irgendwie folgerichtig, die Anatomie. Hier im Waldeyer-Haus wird anschaulich, was es heißt, den Weg allen Fleisches gegangen zu sein. Themenschwerpunkt: Humanpräparate. Ein paar Meter weiter, links neben dem 2016 erbauten Rhoda-Erdmann-Haus, dem Forschungsgebäude des Instituts für Biologie – auch "Grüne Amöbe" genannt – beobachte ich einen Obdachlosen mittleren Alters, leicht korpulent, der Gang schleppend. Am Baumrondell bleibt er stehen, sackt in sich zusammen. Man will kein Gaffer sein, steht aber am Fenster und blickt hinaus. Passanten rufen den Notdienst. Der ist gleich da, nur ein paar Meter weiter ist ja die Rettungsstelle. Mehr Vorbeikommende bleiben stehen. Wiederbelebungversuche auf dem Asphalt. Herzdruckmassage. Bestimmt über eine halbe Stunde. Irgendwann die Geste seitens der Sanitäter: "Hier können wir nichts mehr tun". Sie tragen den Toten in den Notarztwagen und fahren los. Die Menschengruppe löst sich auf. Wochenlang finden sich frische Blumen an dieser Stelle. Über alldem – ein blauer Himmel, ungerührt.