Holocaust-Gedenken 2023 in Schöneberg

Dr. Simone Ladwig-Winters

Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ widmet sich den Lebensgeschichten ehemaliger jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Schöneberg und Tempelhof. Seit 2005 werden in sehr persönlichen Alben die Biografien von Einzelnen, aber auch ganzen Familien, die als Juden verfolgt wurden, dargestellt. Der Verein „frag doch! Verein für Begegnung und Erinnerung“ trägt mit Unterstützung des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg und des Kulturring in Berlin das Ausstellungsprojekt. Ergänzend werden kleinere Sonderausstellungen zu einzelnen Themen präsentiert. Über 10.000 Besucher kommen jedes Jahr in die Ausstellungshalle des Rathauses Schöneberg.

Am 22. Januar fand nun – nach zwei Jahren Pause – die Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag statt, erstmals in der Kirche Zum Heilsbronnen. Im Mittelpunkt stand die Biografie von Marianne Cohn.

Sie wurde im September 1922 in Mannheim geboren, später folgte noch eine Schwester, Lisa. Die Eltern, Alfred und Gretel Cohn legten großen Wert auf ein anregendes Umfeld für ihre Töchter. 1929 zog die Familie von Mannheim nach Berlin-Tempelhof. 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Die Situation entwickelte sich bedrohlich, denn die Cohns waren politische Gegner der Nationalsozialisten – und sie waren Juden.

Im April 1934 verließ die Familie Deutschland und emigrierte nach Barcelona, Spanien. Dort vermietete sie Zimmer in ihrer Wohnung. Auch in Spanien wuchsen die politischen Spannungen. 1936 brach der Bürgerkrieg aus. Die Eltern schickten aus Sorge, dass ihre Töchter Schaden nehmen könnten, sie zu einem Onkel nach Paris.

Marianne Cohn war vierzehn Jahre alt, als sie wieder in ein völlig neues Umfeld eintauchen musste. Nach einem Jahr, 1937, zogen die Schwestern für gut ein halbes Jahr nach Bern in die Schweiz. 1938 ließen sich die Eltern in Frankreich nieder, wohin Marianne Cohn und ihre Schwester Lisa folgten.

Marianne wurde von den Jüdischen Pfadfindern Frankreich (Éclaireurs Israélites de France, EIF) in dem wenig heimeligen Château de Bouillac bis Februar 1940 untergebracht. Sie war siebzehn Jahre alt, hatte inzwischen in Deutschland, ­Spanien, Frankreich und der Schweiz gelebt.

1939 hatten deutsche Truppen Polen überfallen. Im Westen wurde 1940 ein Teil Frankreichs besetzt. Marianne und ihre Schwester waren noch minderjährig, als sie nach Moissac, in der Unbesetzten Zone gelegen, zogen. Dort lebten sie in einem Heim für jüdische Kinder. Marianne, die den Namen der französischen Nationalheldin trug, erhielt Papiere unter dem (falschen) Namen Colin. Sie kümmerte sich um die jüngeren Kinder, musste sie aufheitern, mit ihnen singen und spielen. 1943 war sie als Kinderfürsorgerin für die Zionistische Jugendorganisation Mouvement des Jeunesses Sionistes (MJS) tätig. Dabei dienten ihre mageren Einkünfte als einziges Einkommen für die ganze Familie. Sie gehörte zur Grenobler Gruppe der MJS, sorgte mit anderen für die Unterbringung von jüdischen Kindern in Pflegefamilien oder sonstigen Verstecken.

Ab 1942 waren die Deportationen von jüdischen Menschen aus Frankreich in die Vernichtungslager im Gange. Ab November 1942 war auch die sog. Unbesetzte Zone im Süden Frankreichs den deutschen Regelungen unterworfen. Lediglich im Osten Frankreichs, an der Grenze zu Italien, stand der überwiegende Teil unter italienischer Besatzung bzw. gab es einen Bereich, der entmili­tarisiert war. Über dieses Gebiet wurden jüdische Kinder in die Schweiz geschleust – gefährliche Akte des Widerstandes.

Nachdem Italien im September 1943 kapituliert hatte, fiel die Aufsicht über das Gebiet im Süd-Osten Frankreichs in deutsche Hände. Der vermeintliche Fluchtkorridor direkt an der Grenze zur Schweiz war schwieriger geworden. Im Mai 1944 fuhr eine Gruppe von Kindern zwischen vier und fünfzehn Jahren mit dem Zug von Limoges nach Annecy. Dort empfing sie am 31. Mai 1944 Marianne Cohn mit fünf Kameraden (eine weitere Frau darunter). Mit einem Lastwagen ging es weiter. Doch deutsche Uniformierte kontrollierten die Papiere und nahmen die Kinder und die Begleiter:innen fest. In Annemasse befand sich die Grenzpolizeileitstelle, und das dort befindliche Hotel Pax wurde als Gefängnis genutzt. Die Betreuer:innen wurden intensiv verhört, auch gefoltert. Marianne Cohn (aka Colin) war als deutsche Jüdin besonders gefährdet. Nach Zeugenaussagen wurde sie am 7. Juli 1944 schwer misshandelt, eventuell auch Opfer sexualisierter Gewalt. Das wurde nach Kriegsende nicht abschließend geklärt. Fest steht, dass am 8. Juli 1944 die sechs Begleiter:innen des Kindertransports, auch Marianne Cohn, aus ihren Zellen geholt und in der Nähe der Ortschaft Ville-la-Grand im Wald erschossen wurden.

Am 6. Juni 1944, also einen Monat zuvor, waren die Alliierten in der Normandie gelandet. In der Region im Süd-Osten Frankreichs um Grenoble war die Résistance sehr stark, hier zogen sich die Deutschen ab Mitte Juli zurück. Da war Marianne Cohn bereits tot. Insgesamt hatte sie an der Rettung von 200 Kindern mitgewirkt, auch jene des letzten Transports hatten überlebt.

Nachtrag: Die Mörder sollen Friedrich Meyer, Hauke Mansholt und Josef Pilz geheißen haben. Wenngleich Meyer in Abwesenheit unmittelbar nach dem Krieg in Frankreich von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt wurde, wurden weder er noch einer der Mittäter gefasst.

In ihren Grußworten zum Holocaust-Gedenktag betonten Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann und Bezirksstadtrat Tobias Dollase, wie wichtig die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit ist, um die Demokratie und die Freiheit in der Gegenwart zu sichern.