Das Ende des Sperrgebietes in Karlshorst

Wolfgang Schneider

Im Jahr 2023 haben die Karlshorster ein besonderes Jubiläum. Zum 60. Mal jährt sich das Ende des Sperrgebietes in Karlshorst. In den Veröffentlichungen der vergangenen Jahre steht über diesen Schlusspunkt: „Unerwartet“ oder „überraschend“ wurde am 23. Mai 1963 das Sperrgebiet für alle deutschen Bürger geöffnet. Nach neuen Dokumentenfunden im Bundesarchiv bestehen an dieser Lesart zumindest Zweifel. Es war alles andere als „unerwartet“ und „überraschend“.

Das erste interessante Dokument des Präsidiums des Ministerrates an den Oberbürgermeister von Groß-Berlin ist datiert mit dem 14. April 1960, dem offenbar ein Briefwechsel vorausgegangen ist. Das Dokument beinhaltet den Wunsch der „Freunde“ nach einem Objekttausch. Im Brief wird versucht, diese Wünsche zu realisieren: Die „Freunde“ bieten die Übergabe der Askanier-Werke in Weißensee der Regierung der DDR an, um im Tausch dafür die Gebäude der ehemaligen Festungspionierschule in der Zwieseler Straße und des Verwaltungsgebäudes im Grafenauer Weg zu erhalten. Ein Antwortschreiben vom 11. Juli 1960 des Sekretariats des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin an das Büro des Präsidiums des Ministerrates beinhaltet Varianten und Realisierungsmöglichkeiten dieses Wunsches. Das Projekt scheiterte offenbar 1960, da für die in Karlshorst ansässigen Ministerien und Einrichtungen der DDR nur ungenügend geeigneter Büroraum vorhanden war.

Das nächste aufschlussreiche Dokument ist datiert vom 9. April 1963 und beinhaltet die Niederschrift des Mitgliedes des Politbüros Paul Verner über ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Abrassimow. Dieser teilte Paul Verner mit, dass von der sowjetischen Seite die Absicht besteht, die Umzäunung des Sperrgebietes in Karlshorst aufzulösen. Dabei würden drei Häuser mit 170 Wohnungen und 40 bis 50 Einzelhäusern (Villen) frei. Weiterhin würden das Krankenhaus im Sperrgebiet und das Klubhaus mit Theatersaal geräumt. Im Austausch für die geräumten Gebäude wurden wiederum die Bürohäuser der Festungspionierschule gefordert. Weiterhin wird der Wunsch nach Wohnungen im Zentrum von Berlin für die Mitarbeiter der Botschaft und anderer sowjetischer Einrichtungen artikuliert.

Am 26. April schreibt der Oberkommandierende der sowjetischen Truppen in Deutschland Jakubowski an Willi Stoph. Er kündigt ebenfalls die Aufhebung des Sperrgebietes an und die Unterbringung weiterer Truppenteile auf dem „angrenzenden Gebiet“ der Festungspionierschule. Man wolle die sowjetischen Truppenteile geschlossen unterbringen. Dafür würden die Gebäude der Bauakademie und des Ministeriums für Bauwesen in der Zwieseler Straße benötigt. Als Ausgleich würden Gebäude in der Rheinsteinstraße 12–15 und in der Godesberger Straße 3 übergeben. Die Gebäude der Bauakademie und des Ministeriums für Bauwesen lagen zwischen Kasernen eines sowjetischen Panzerbataillons und Gebäuden des sowjetischen Stadtkommandanten. Die DDR-Regierung hatte bereits 1962 die Bauakademie und das Ministerium für Bauwesen ins Zentrum der Stadt verlegt und damit begonnen, den Landwirtschaftsrat hier unterzubringen. Diese Umzugspläne wurden gestoppt.

Nun geht alles sehr schnell, denn die Umzüge sind seit 1960 mehrfach geplant und geübt. Eine Begutachtung des St. Antonius-Krankenhauses am 14. Mai 1963 durch eine Expertengruppe kam zum Schluss, dass die gesamte bautechnische Anlage für ein Krankenhaus ungeeignet ist und das Objekt für Verwaltungszwecke genutzt werden sollte. Anfang Mai erhält der Direktor der Sparkasse Berlin einen Brief mit der Aufforderung, die Zweigstelle der Stadtsparkasse beim Landwirtschaftsrat, Zwieseler Straße 48 bis zum 18. Mai 1963 zu räumen. Die Zuweisungen für ihre neuen Objekte erhalten die Dienststellen der DDR am 17. Mai 1963. Dem Landwirtschaftsrat mit den untergeordneten Staatlichen Komitees werden die Objekte Köpenicker Allee 39–57, Königswinter Straße 36–37 und Riastraße 9a zugeordnet, die zu diesem Zeitpunkt teilweise noch offiziell im Sperrgebiet liegen. Mit gleichem Datum werden der Deutschen Bauakademie für zwei zugeordnete Institute die Objekte Godesberger Straße 3 und Weseler Straße 2 bereitgestellt.

Über die Gründe der Räumung des Sperrgebietes und den Tausch der Gebäude kann nur spekuliert werden. Wahrscheinlicher ist, dass sich 15 Jahre nach Ende des Krieges und der Einrichtung des Sperrgebietes die meisten Gebäude in einem desolaten Zustand befanden. In die Erhaltung der Gebäude wurde wenig bis gar nichts investiert. Einige der übergebenen Gebäude verfielen derartig, das 1963 nur ein Abriss sinnvoll war. Angehörige der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), später der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) führten in der Regel drei Jahre eine Tätigkeit in Deutschland aus. Bei der Rückkehr in die Sowjetunion wurde aus den Wohnungen alles ausgebaut, was in der Sowjetunion ein knappes Gut war. Dazu zählten nicht nur Waschbecken und Armaturen sondern auch Türen und Fenster. So verfielen viele Häuser.

Ein weitere möglicher Grund: Nach der Räumung einiger Verwaltungsgebäude in Karlshorst 1954 konzentrierten sich die Arbeitsplätze für sowjetische Mitarbeiter im Gelände um die sowjetische Botschaft. Es gab deshalb Bemühungen, in der Nähe der Botschaft Wohnblöcke für die Mitarbeiter zu erhalten. Das relativ freie Leben der sowjetischen Bürger im Sperrgebiet von Karlshorst hatte auch Misstrauen erregt. Eine Überwachung der Botschafts-Mitarbeiter durch den eigenen sowjetischen Geheimdienst in den nunmehr geplanten Wohnblocks ließ sich  einfacher realisieren.

Was ist vom Sperrgebiet geblieben? Anders als bei der Berliner Mauer sind die Grenzen des Sperrgebietes nicht mehr sichtbar. Einigen Eigentümern in der Zwieseler Straße und im Bodenmaiser Weg ist es zu danken, dass die Reste der letzten gemauerten Grenze erhalten geblieben sind. Sie sind heute noch zu besichtigen. Von der SMAD veranlasste Bauten im Sperrgebiet waren drei Einfamilienhäuser in Holzbauweise in der Königswinter Straße und das Haus der Erholung in der Rheinsteinstraße. Sie sind in den letzten Jahren Neubauten gewichen. Bestand hat das 1947 bis 1949 gebaute Verwaltungsgebäude im Grafenauer Weg und das Theatergebäude am S-Bahnhof. Beide werden aktiv genutzt bzw. gegenwärtig einer Nutzung zugeführt. Nicht vergessen werden darf der Rheinsteinpark. Er wird heute von den Karlshorstern gern genutzt und hat doch seine Entstehung der sowjetischen Besatzungsmacht zu danken.

Das Ende des Sperrgebietes ist nicht das einzige Jubiläum, das gefeiert werden kann. Auch die Hefte „Karlshorster Beiträge zur Geschichte und Kultur“ können feiern. Vor 15 Jahren erschien das erste Heft „die halle“. In regelmäßigen Abständen informieren die Autoren zu verschiedenen Karlshorster Themen. Das Heft 1 ist zwischenzeitlich ausverkauft aber wir arbeiten an einer Neuauflage, um den vielen neu Zuziehenden ein Stück Karlshorster Luftfahrtgeschichte nahe zu bringen.