Erinnerungen, die in Schubladen verwahrt werden

Edeltraud Schönnagel

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad – dieses Lied, gefunden zufällig beim Aufräumen von alten Heften und Zetteln, hat in mir die Idee gezündet, meine eigene Oma in den Mittelpunkt dieser Geschichte zu stellen. Wortlaut und Musik des Liedes haben im Laufe der Jahre viele Veränderungen erfahren, der Ursprung geht zurück in die 1930er Jahre, laut wikipedia ist der Text im Jahr 1936 in einer Zeitschrift nachweisbar.

 Ab 1885 sah man Motorräder vereinzelt auf den Straßen, da war meine Großmutter gerade mal zwei Jahre alt. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in Schlesien auf und ihre Fahrzeuge waren in der Kindheit höchstwahrscheinlich ein Puppenwagen oder ein Roller; als Erwachsene hat sie dann wohl einen Handwagen oder die Schubkarre benutzt, um ihr Tagesgeschäft zu erledigen. Für sie hätte sich nie die Gelegenheit ergeben, so einen, wie man damals sagte “Feuerstuhl“ zu besteigen.

 Ich bin ihr einziges Enkelkind und wir lernten uns kennen, als sie schon in vorgerücktem Alter war und meine Großmutter wurde. Da war sie bereits mit ihrem zweiten Mann verheiratet, sie lebte mit ihm in einem Dorf in der ehemaligen DDR auf dem Altenteil eines Bauernhofes und konnte nie vergessen, dass ihr Sohn und dessen Vater im 1.Weltkrieg gefallen waren. Die Tochter, meine Mutter, war nach Berlin gegangen, mich hatte sie bei den Großeltern zurückgelassen. Ich habe kein liebevolles Erinnern an meine Oma, sie nahm mich nie in den Arm und aß - ich musste neben ihr im Bett schlafen - heimlich Süßigkeiten unter der Bettdecke. Das habe ich ihr nicht verziehen, denn die Geräusche, die sie dabei machte, kann ich noch heute abrufen. Wann immer es möglich war, holte ich mir aus ihren Verstecken die Dinge, die ich sonst nicht bekam.

In Erinnerung ist mir eine verhärmte, entweder in schwarz oder in eine Kittelschürze gekleidete alte Frau geblieben, die fleißig die täglichen Arbeiten erledigte, welche im Haus und Garten anfielen. Sie trug ihr lichtes, graues Haar streng nach hinten zu einem Dutt gebunden, hatte im Alltag Holzpantinen an den Füßen, nur sonntags und zu besonderen Anlässen trug sie schwarze Schnürstiefel. Es gab nicht viele besondere Tage in ihrem Alltag, aber manchmal erlaubte sie sich eine Auszeit. Dann ging sie ein Stück die Dorfstraße entlang bis zum Ufer der Schwarzen Elster und setzte sich auf die dort stehende Bank. Manchmal saßen dort andere ältere Frauen, sie kannten sich natürlich. Da wurde dann getuschelt und getratscht, zwischendurch auch mal gekichert, denn jede wollte die Ereignisse, die im Dorf oder in der Familie auftraten, loswerden und kommentieren.

Am liebsten aber war meine Oma dort allein. Dann saß sie aufrecht, ohne sich anzulehnen, auf der Bank und schaute dem Lauf des Wassers nach. Ihr liebster Spruch war: „Wasser und Zeit sind wie Kinder. Sie laufen einem davon.“ Sie verfügte über viele solcher Sprüche, kein Spruch war positiv oder lustig. Ich bekam täglich ein paar davon zu hören, wenn ich als nicht schnell genug oder faul gescholten wurde. “Dir kann man im Laufen die Schuhe besohlen“ war so eine Rüge, ganz passend, denn ihr Mann, also mein Stiefopa, war Schuster. Er  betrieb seine Werkstatt in dem Raum, der auch als Küche und Wohnzimmer benutzt wurde,  sein Handwerk hinterließ Lärm und Staub. Der Alltag spielte sich in diesen beengten Verhältnissen ab, das Wasser musste vom Brunnen geholt werden und zur Toilette ging man über den Hof.

Das ist alles lange her, viele Ereignisse und Verletzungen habe ich verdrängt oder vergessen, die Schubladen mit diesen Erinnerungen sind verschlossen. Sie werden ganz selten vorsichtig für einen kleinen Spalt geöffnet, so wie jetzt für diesen Aufsatz.

Erst jetzt, als älterer Mensch, stelle ich mir die Frage: Welche Gründe haben meine Oma so hart werden lassen? Bestimmt hat sie am Ufer des Flusses darüber nachgesonnen, wie ihr Leben hätte anders verlaufen können, wenn nicht dieses oder jenes passiert wäre. Was hat sie sich erträumt, gewünscht, erhofft und was ist davon eingetreten?  Ganz sicher wollte sie nie Motorrad fahren, weder im Hühnerstall noch auf einer Straße, aber Pläne für einen anderen Lebenszuschnitt waren garantiert vorhanden, die schmieden alle jungen Menschen. Das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint, das kann ich mit Bestimmtheit sagen.  Woher hat sie die Kraft genommen, auszuhalten, was ihr das Leben verwehrte?

Meine Sichtweise auf meine Oma Martha Friedrich hat sich verändert. So, wie sie war, hat das Leben sie geformt. Ich kann ihr jetzt, im Abstand der vielen Jahre verzeihen und mir damit die Gewissheit schenken, dass sie mit ihrem Verhalten nicht mich, sondern das Leben an sich gemeint hat. Das befreit mich sehr und ich bin froh, dass ich diese Schublade nach langem Zögern doch geöffnet habe.