Die denkwürdigen Ereignisse, von denen in der Folge zu sprechen sein wird, haben sich in einer Senioren-WG zugetragen. WG und Senioren, das ging früher gar nicht zusammen. Gerade die Älteren dachten bei "Wohngemeinschaft" ans wilde Lotterleben von Rainer Langhans und Uschi Obermeyer. Und an Fritz Teufel, allein schon des Namens wegen. Und nun leben die Senioren selber in WGs, und das hat gar nichts Anrüchiges mehr. Die Zweifler, die Skeptiker und Kritiker, die vorschnell abwinken, weil sie das, wovon gleich die Rede ist, als absonderlich und überspannt einstufen, seien versichert: Ich habe die Geschichte genau so aufgeschrieben, wie sie sich ereignet hat. Ich habe nichts geschönt und nichts hinzugetan. Anderen etwas vorzumachen, ist nicht meine Sache. Das machen schon die Scharlatane und die Schlagersänger. Ich bin keine Lügenbaronin. Ich lese älteren Menschen aus Büchern und Zeitungen vor. Ich bin Vorleserin. Und alles, was ich nunmehr berichte, entspricht der Wahrheit.
Frau S. in der besagten Senioren-WG ist eine treue Hörerin. Zuletzt trug ich ihr aus Dürrenmatts Kriminalroman "Das Versprechen" vor, dem älteren Fernsehpublikum besser bekannt unter dem Filmtitel "Es geschah am hellichten Tag", mit dem großen Gerd Fröbe als Bösewicht und Heinz Rühmann als ermittelnden Kommissar. Die Vorliebe für Krimis vereint Frau S. und mich. Bereits im Vorfeld der Lesung pflege ich, sagen wir mal, gewisse Rituale. Dreimal kräftig an ihre Tür geklopft, der beherzte Griff an die Klinke, diese runterdrücken und Frau S. laut und vernehmlich mit der Nennung ihres und meines Namens begrüßen. Das sind feste Abläufe. Frau S. wiederum hat die ihren: ein vorbereiteter Teller mit Apfel, Pflaume oder Mandarine, dazu manchmal eine Haselnuss-Waffel, ein paar Pralinen oder ein Tütchen Gummibären. Daneben die Mineralwasserflasche samt Glas. "Eingießen müssen Sie sich aber selber!" ruft sie in meine Richtung, denn sie sieht nicht gut und erkennt mich nur als Schemen. Rechts und links trägt sie ein Hörgerät. Auf meine Frage, wie es ihr gehe, antwortete sie einmal mit einem Blick, der mir ins Mark ging: "Wie soll es mir gehen – ich bin 94."
In ihrem Geist ist meine Seniorin – und da will ich sie keinesfalls übertrieben schmücken – frisch und aufgeweckt wie am ersten Tag. Der Einstieg in die Lektüresitzung steht im Zeichen der kurzweiligen Plauderei. Beachtlicherweise für eine über 90-Jährige ist das die Tagesaktualität, die sie dem Radio entnimmt. Aber auch manches aus ihrer Biografie kommt zur Sprache. Ich erfahre von der Jugend in Pommern, von den Kriegsjahren mit allen Widrigkeiten und Entbehrungen, von ihrer Arbeit im Spital, von den Herausforderungen, die Kinder in schwerer Zeit allein durchbringen zu müssen. Eine lebenserfahrene, eine resolute und tapfere Frau, ganz zweifellos. Sie erzählt von der Übersiedelung nach Berlin und auch davon, wie sich Wedding im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. Allein die aktivierte Zeitansage, ihrer mangelnden Sehkraft geschuldet, überlagert den Gesprächsverlauf bisweilen und erinnert mich an den anstehenden Einsatz der mitgebrachten Lesetexte.
Was die Abfolge des Programms betrifft, so nimmt unsere Zusammenkunft an jenem Dienstagvormittag zunächst den üblicherweise vorgesehenen Verlauf. Doch dann:
"Würden Sie bitte die Tür abschließen!"
So der von ihr mit Nachdruck gesprochene Satz. Zugegebenermaßen bin ich verblüfft. In dieser Senioren-WG bei verriegelter Türe zu lesen, ist fern meiner Gewohnheit. Andererseits stehen die Türen auch nicht sperrangelweit offen. (Ich möchte nicht das Gefühl haben, auf einem Bahnsteig zu lesen.) Um unwillkommenen Störungen auszuweichen, sind sie in der Regel entweder einfach nur "zu", oder ab und zu auch nur angelehnt. Das ist das Normale.
"Sie wird schon ihre Gründe haben,"
denke ich mir und schaue sie etwas länger an, bevor ich den Schlüssel umdrehe. Immerhin will ich wissen, was hinter ihrer Aufforderung steckt. Doch Frau S. schweigt eisern.
Nun, diesem Verhalten hätte ich keine weitere Bedeutung gegeben, wäre die sich anschließende Lesung glatt vonstatten gegangen. Ich hätte das alles eher als belanglose Begleiterscheinung verbucht, die der Umgang mit älteren Menschen mit sich bringen kann. Doch es sollte anders kommen.
Mit einem Mal und völlig unversehens, mitten in der Lesung, wird die Klinke von Frau S.' Zimmertür von außen betätigt. Ich kann dies so verlässlich sagen, da der Zugang zur Tür von meinem Sitzplatz aus einsehbar ist. Die Klinke senkt sich, ganz langsam und lautlos. Und ebenso lautlos hebt sie sich wieder, um nach oben in die ursprüngliche Position zurückzugleiten.
"Mensch, das ist ja wie bei Edgar Wallace!"
schießt es mir in den Kopf.
"Oder vielmehr wie beim anderen Edgar, dem Allan Poe nämlich."
Nicht zu vergessen auch weitere Meister und Meisterinnen der Spannung. Bei Agatha Christie, der großen alten Dame des Krimis, mag es hinter den efeuberankten Mauern abgelegener Herrenhäuser auch schon mal merkwürdig zugegangen sein. Mitunter begleitet von einem britischen Augenzwinkern. Ich bin leicht amüsiert, leicht irritiert: Eine mir unbekannte Person ist darauf aus, sich Zutritt zu dem Raum zu verschaffen, in dem ich für Frau S. eine Lesung abhalte.
[Ich:] "Sie bekommen Besuch, Frau S. Da will jemand rein."
[Frau S. im Brustton der Überzeugung:]
"Das ist wieder der. Der ist wirklich nicht ganz…. [Frau S. tippt sich mehrfach gegen die Stirn]. Der hat sein Apartment auch in dieser Etage. Stellen Sie sich vor: Ich komme aus der Dusche und der steht mitten im Zimmer da und guckt. Da habe ich mir Hilfe holen müssen, wer weiß was sonst passiert wäre."
[Frau S. weiter:]
"Sehen Sie, wie gut, dass Sie abgeschlossen haben. Das ist garantiert wieder der! Der kommt hier nicht rein. Der bleibt draußen. Jetzt haben wir unsere Ruhe."
Unsere Ruhe hatten wir allerdings nicht ganz. Denn dieses "Türklinken-Geschehnis" wiederholte sich über die Dauer der gesamten Lesung noch weitere zwei Male: kein Klopfen, nicht einmal andeutungsweise. Sondern ausschließlich dieses heimlich-unheimliche Betätigen der Türklinke vom Zimmer meiner Gastgeberin, für die unzweifelhaft feststand, wer das war.
Nur: was machte sie da so sicher?
Eine Woche später:
Die Lesung bei Frau S. verläuft ohne Zwischenfälle im gewohnt vergnüglichen Rahmen. Und auch die Erinnerung an die Vorkommnisse des vorangegangenen Dienstags hatte sich verflüchtigt. Ich verabschiede mich und da spricht mich auf dem Flur ein WG-Bewohner an: Da sei ein Herr, der habe schon viel Gutes von mir gehört und interessiere sich für mein Vorlesen. Der Mann drückt mir einen zerknitterten Zettel mit einem Namen in die Hand.
Wenige Tage später bei Herrn B:
Ich stelle mich vor. Frage ihn, ob er etwas vorgelesen haben möchte. Ich hätte etwas dabei, etwas Unterhaltsames, Heiteres oder auch Spannendes. Eine kurze Erzählung vielleicht? Oder gern auch ein Gedicht? Oder etwas aus der Zeitung? Nach einer Weile beiderseitigen Schweigens antwortet er mit fast tonloser Stimme. Ja, das könne ich tun, wenn es mir Spaß mache. Aber das müsse nicht sein. Nur wenn ich das unbedingt möchte. Notwendig sei das nicht. Während er spricht, schaut er mich nicht an. Er blickt starr aus dem Fenster. Sein Blick geht ins Leere. Er ist teilnahmslos. Die schmale Geschichte, die ich ihm daraufhin vorgelesen habe, hat ihn möglicherweise gar nicht erreicht ...
Ich weiß nicht warum. Ich kann es mir nicht erklären, aber plötzlich stellt sich dieses Bild wieder ein. Das Bild der sich senkenden Klinke von Frau S.' Zimmertür. Mit einem Schlag ist es wieder da. In einer Klarheit und Schärfe, als ob die Erinnerung an den seltsamen Vorgang nie verblasst gewesen wäre.
Ich hege einen stillen Verdacht. Herr B. – ist er derjenige, welcher? Ist er der Mann, nach dem ich fahnde, ohne mir dies bewusst gemacht zu haben? Der große Unbekannte? Der rätselhafte, der geheimnisvolle Mr. X? Ich halte das für nicht ausgeschlossen. Unwillkürlich muss ich schmunzeln, wie ich mich dabei ertappe, gedanklich in die Rolle der Ermittlerin zu schlüpfen. Oder bin ich andererseits ungerechtfertigt misstrauisch diesem älteren Herrn gegenüber, der körperlich klapprig und geistig wunderlich auf mich wirkt – und bei alledem nie jemandem etwas zu Leide getan hat?
All das vermag ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Schon nächste Woche werde ich die Spur wieder aufnehmen. Ich verspreche es. Ich werde in dieser Sache weiter ermitteln.