„Liebe macht nicht blind. Der Liebende sieht nur weit mehr, als da ist“
Oliver Hassenkamp, deutscher Schriftsteller (1921 – 1989)
Seit ich denken kann und ihn wahrnehme, beeindruckt er mich und gleichzeitig denke ich an meinen Vater. Es handelt sich wohl um eine Dreierbeziehung.
Mitten im Raum zieht er sofort alle Blicke auf sich und verlangt uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Gefertigt aus massivem Holz mit Furnierauflagen, steht er still und majestätisch da: 150 cm breit, 80 cm tief und 78 cm hoch.
Die Breite teilt sich in drei gleiche Abschnitte, links und rechts je eine mit einer verschließbaren Tür. Das in der Mitte vorhandene separate große ebenfalls verschließbare Schubfach.ist so angeordnet, dass meine Beine darunter im Sitzen bequem Platz finden. Unter den seitlichen Teilen wird er von jeweils vier leicht geschwungenen Füßen getragen. Hinter der Tür auf der rechten Seite.befinden sich drei Schubladen. Die linke Seite wird durch eine waagerechte Ablage geteilt, sodass zwei größere Fächer entstehen. Aufgrund seiner Tiefe verliert man im hinteren Teil schnell die Übersicht und den Kontakt zu den dort abgelegten Dingen und zeigt sich beim spontanen Auffinden oft überrascht.
Obwohl er bereits allein ein Hingucker ist, wird er für mich erst durch das auf ihm abgestellte Tintenfass mit Ablage für den Brieföffner und das Siegel sowie den Briefständer, alles aus Marmor, jeweils mit Messing verziert, komplett.
Aufgrund seines geschätzten Alters von ca. 90 Jahren, könnte er uns sicherlich viel erzählen, vor allem über die Orte, an denen er sich befunden hat und genutzt wurde.
Zunächst erfüllte er im noblen Herrenzimmer in der Wohnung eines Finanzbeamten die ihm zugedachten Aufgaben als Sekretär. Danach änderten sich seine Aufgaben. Im Kinderzimmer diente er als Hilfe bei der Erledigung der Hausaufgaben und war für die Kinder ein wunderbares Versteck. Dann führte er 15 Jahre ein bescheidenes Leben und diente lediglich als Ablagefläche und Stellplatz für Blumen sowie als Aufbewahrungsort. Mit mir begann er ein neues erfülltes Leben. Im Büro des Technischen Direktors eines Volkseigenen Betriebes war er wieder der Hingucker im Kontrast zu den einfachen Büromöbeln. So begleitete er mich bei allen meinen beruflichen und privaten Stationen: Er stand in meinem Kellerbüro in Müncheberg, dann stieg er auf in das Wohnungsbüro in Strausberg. Danach zogen wir gemeinsam um nach Berlin-Tempelhof und gestalteten das Sachverständigenbüro. Und heute hat er endlich Ruhe verdient. Seine Aufgaben erfüllt er weiterhin mit großer Empathie als chaotischer, aber bedeutender Ablageort für mich und als Versteck für die Enkel.
Was könnte er uns alles erzählen? Wo wird er bleiben?