Seit etwa 09:15 Uhr sitze ich am Küchentisch und genieße ohne Zeitdruck mein leckeres Frühstück. Heute ist schönes Wetter, wie mein Blick aus dem Fenster verkündigt. Die Sonnenstrahlen tanzen auf dem Fenstersims und kitzeln die Topfpflanzen, die sich an der Morgenwärme genauso erfreuen wie ich. Ich betrachte gerne morgens meine rosa Orchideen und Kakteen, die dort wunderbar gedeihen. Als ich die Kaffeetasse ergreife, schweift mein Blick unwillkürlich auf den Bildkalender an der gegenüberliegenden Wand. Meine Augen kleben plötzlich auf das heutige Datum. Sofort blitzt meine Erinnerungslampe auf! Mir wird schlagartig bewusst, dass genau heute vor einem Jahr ein neuer Lebensabschnitt für mich begann: mein 1. Tag im Ruhestand!
Ja, ein Jahr ist schon vergangen, seitdem ich zum „Club der Rentnerinnen und Rentner“ gehöre. Ich kann es kaum selbst fassen, dass schon 12 Monate um sind. Vieles ist in diesem Zeitraum geschehen – so manches, wie ich es mir gewünscht, aber auch so manches anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich blicke nachdenklich zurück, allerdings ohne Wehmut oder Bitterkeit, dafür mit Dankbarkeit und Zufriedenheit, sehe die einzelnen Etappen wie auf einem Film abspulen.
Bevor ich in den Ruhestand ging, hatte ich einige Vorstellungen, was ich so alles nach einem erfüllten Berufsleben machen würde, wozu ich vorher in Verbindung mit meinem quirligen Familienleben kaum oder keine Zeit hatte. Es war mir klar, zunächst wollte ich ganz zuversichtlich die festen Berufsfesseln abstreifen und den ständigen Arbeitsstress wie regulären Staub abschütteln – was mir später auch nach und nach gelang.
Einen Monat vor meinem Renteneintritt strich ich die letzten Berufstage mit großer Freude auf meinem Wandkalender ab. Rote Kreuze kündigten diesen Fortschritt gut sichtbar an. Und dann kam endlich der bedeutungsvolle Tag X! Ab diesem Stichtag begann ich mit Erleichterung, aber auch mit gutem Gewissen eine neue Lebensphase. Hurra, die große Freiheit ging los!
Die ersten Wochen fühlte ich mich jedoch nicht wie eine Rentnerin, sondern eher wie eine Urlauberin, die sich langsam erholte und neue Kräfte für die nachfolgenden Arbeitstage tankte. Diese lange Entspannung tat mir gut. Doch nach etwa 2 Monaten tauchten bei mir komische Momente auf. Nicht etwa Entzugserscheinungen oder Sehnsuchtsanfälle nach meinem alten Arbeitsplatz. Nein, mich überfiel stattdessen etwas das unangenehme Gefühl, ich würde die Arbeit schwänzen oder „krankfeiern“. Aber ich wusste natürlich, dem war nicht so. Ich musste mich einfach nur daran gewöhnen, den einst gewohnten Arbeitsrhythmus mental zu verdrängen. Gar nicht so einfach, merkte ich. Das ist leichter gesagt als getan, zumal ich jahrzehntelang eine zuverlässige Arbeitsbiene war. Ein Blick auf die Uhr um die Mittagszeit suggerierte mir, gleich ist Mittagspause. Der Ringordner auf meinen Schreibtisch erinnerte mich an Büroarbeit. Und meine Kaffeetasse entführte mich gedanklich an Käffchen trinken mit Kollegen. Diese Details entfachten nur ganz kurze Erinnerungsflammen, die schnell wieder erloschen. Diverse Ablenkungsmanöver überrumpelten die Macht der alten Gewohnheiten. Irgendwann klappte es doch noch ganz gut mit der Umstellung, die ich sinnvoll einteilte.
Durch Eigeninitiative oder Außeneinwirkungen eröffneten sich in den folgenden Monaten neue Erfahrungsfelder für mich. Eines Tages stellte ich fest, so viele freie Zeit, wie ich sie mir früher ausgemalt hatte, stand mir keinesfalls jeden Tag zur Verfügung. Denn meine Tagesabläufe waren meist gut getaktet, entweder selbst so geplant, fremdbestimmt oder unverhofft eingetreten. In der von mir durchdachten Wochenstruktur mischten sich viele vergnügliche Stunden für die Ausübung von unterschiedlichen Aktivitäten wie Aquarellmalerei, Druckgraphik, Töpferei, Schreiben, Tanzen, Tai Chi, Chi Gong, Museumsbesuche, Wandern, Tagesausflüge mit jenen notwendigen Stunden für Arztbesuche, Physiotherapie oder Funktionstraining. Hinzu kam mein Ehrenamt, welches ich in einer Senioreneinrichtung in meiner Wohnnähe ausübte. Dort leitete ich einmal pro Woche mit viel Spaß und Elan eine kleine Literaturgruppe. Zusätzlich besuchte ich regelmäßig eine fast 99 jährige Dame in der dortigen Wohngemeinschaft. Ich verwöhnte sie mit literarischen Leckerbissen, Anekdoten oder Tagesnews, worüber wir herzlich klönten.
Das war aber noch längst nicht alles! Es kam auch noch meine Familie dazu. Meinem Mann, meinen 2 Kindern und 3 Enkelkindern widmete ich ebenfalls entsprechende Zeiträume, die für mich wichtig waren. Nebenbei mussten auch noch Verwandtenkontakte und Freundschaften weiter gehegt und gepflegt werden. Es gab immer was zu tun für mich. Langeweile kannte ich daher nicht!
Allerdings räumte ich mir zwischendurch auch einige Ruhemomente ein, in denen ich Zeit nur für mich selbst schenkte, d. h. dabei bewusst ganz allein sein wollte. Das waren aber nicht die traditionellen Auszeiten wie Mittagsschlaf, Toilettengänge oder Badewannengenüsse, sondern entspannte Spaziergänge rund um einen kleinen See oder auf einem schön gepflegten Friedhof, wo ich die herrliche Stille und Natur genoss, dort die Hektik der Großstadt hinter mir ließ.
Wenn ich mein erstes Rentenjahr überblicke, denke ich, passt zu mir der legendäre Satz „Carpe diem“. Verschwiegen sei an dieser Stelle nicht, dass mit zunehmendem Alter so manche aktionsreiche Stunde nicht mehr so flott und geschmeidig wie in jüngeren Jahren verläuft. Vieles geht langsamer zu und erfordert deshalb mehr Zeit! Körperliche Einschränkungen und Zipperlein bestimmen mal mehr, mal weniger den Tagesablauf.
Wenn ich meine ganz jungen Jahre reflektiere, verstand ich damals nicht, wenn es hieß: „Rentner haben keine Zeit.“ Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Sie müssten doch ganz viel Zeit haben, dachte ich ahnungslos. Schließlich gehen sie nicht mehr stundenlang pro Tag einer Arbeit nach, haben keine Hin- und Rückwege, sei es mobil oder zu Fuß. Sie müssen nicht erst nach der Arbeit noch hastig ihre Einkäufe erledigen, irgendwelche Termine wahrnehmen und sonstige Verpflichtungen einhalten. Rentner haben doch für alles tagsüber mehr Spielraum, schloss ich daraus. – Ja, die Jugend denkt anders. Im Laufe der Jahre wurde ich eines Besseren belehrt. Von den älteren Generationen erfuhr ich, dass sie tatsächlich wenig oder keine Zeit im Rentenalter haben – bezogen auf ihre jeweiligen Lebensentwürfe und Alltagsituationen.
Ich beende mein Frühstück mit der Erkenntnis, dass auch ich zu den vollbeschäftigten Senioren gehöre, die keine wirkliche Ruhe im Ruhestand erleben, sondern eine ausgefüllte bunte „Herbstzeit“ genießen dürfen. Wie lange diese turbulente Phase andauern wird, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Aber solange mein Motor noch gut läuft, nutze ich gerne meine mir verfügbaren Möglichkeiten.
Plötzlich klingelt mein Smartphone. Meine jüngste Enkelin ist am anderen Ende der digitalen Leitung. Sie wünscht mir fröhlich einen schönen guten Morgen und fragt mich, was ich heute vorhabe. Ich zähle verschiedene Tagestops auf und runde ab: „Und am Nachmittag komme ich zu euch.“ Daraufhin antwortet die Kleine wie aus der Pistole geschossen: „Es bleibt dabei, du bist meine Non-Stop-Oma! Ich freue mich schon auf dich.“ Ich muss lachen. Sie hat mit ihrem Kindermund recht.
An dieser Stelle möchte ich, die Autorin (61 Jahre), anmerken, dass ich selbst noch keine Rentnerin bin, mich aber gut in den Alltag von Seniorinnen und Senioren hineinversetzen kann, da ich jahrelang verschiedene Erfahrungen und Erkenntnisse im Umgang mit älteren Menschen gewonnen habe. Mein Ehrenamt in einem Seniorenzentrum bereichert meinen diesbezüglichen Wissensschatz, insbesondere dort als Vorleserin und Gesellschafterin bei einer 99 jährigen Dame und als Leiterin einer Senioren-Malgruppe. Mein o. g. Text basiert daher auf vielen wahren Details, aber auch auf einigen fiktiven Zutaten.