130 Jahre Freie Volksbühne: „Die Kunst dem Volke“

Dagmar Steinborn

In seinem Aufruf zur Gründung einer „Freien Volksbühne“ schrieb der Schriftsteller und Philosoph Bruno Wille im Berliner Volksblatt am 23. März 1890: „Das Theater soll eine Quelle hohen Kunstgenusses, sittlicher Erhebung und kräftiger Anregung zum Nachdenken über die großen Zeitfragen sein. Es ist aber größtenteils erniedrigt auf den Standpunkt der faden Salongeisterei und Unterhaltungsliteratur, des Kolportageromans, des Zirkus, des Witzblättchens. Die Bühne ist eben dem Kapitalismus unterworfen, und der Geschmack der Masse ist in allen Gesellschaftsklassen vorwiegend durch gewisse wirtschaftliche Zustände korrumpiert worden. Indessen hat sich unter dem Einfluss redlich strebender Dichter, Journalisten und Redner ein Theil unseres Volkes von dieser Korruption befreit. Haben doch Dichter wie Tolstoi und Dostojewski, Zola, Ibsen und Kielland, sowie mehrere deutsche ‚Realisten‘ in dem arbeitenden Volke Berlins einen Resonanzboden gefunden. Für diesen, zu gutem Geschmack bekehrten Theil des Volkes ist es ein Bedürfnis, Theaterstücke seiner Wahl nicht bloß zu lesen, sondern auch aufgeführt zu sehen.“

Mit der Gründung des Vereins „Freie Volksbühne Berlin“, wurde auch Menschen, denen es wirtschaftlich nicht gut geht, ermöglicht, sich Eintrittskarten für das Erlebnis Theater zu leisten. Die Mitglieder erwarben durch einen Vierteljahresbeitrag einen Theaterplatz für drei Vorstellungen. Mit den Beiträgen wurden lediglich die Theatermiete und die Gagen der Schauspieler finanziert. Gleichzeitig sollten Aufführungen sozialkritischer Stücke durch die nicht-öffentlichen Aufführungen innerhalb eines Vereins dem Zugriff der Zensur entzogen werden. Am 19. Oktober 1890 fand die erste eigene Theateraufführung mit Henrik Ibsens Stück „Stützen der Gesellschaft“ im Ostend-Theater statt. 1908 wurde beschlossen, ein eigenes Theater zu bauen. Am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (früher Bülowplatz) entstand der Neubau. Die Finanzierung des Baus erfolgte ohne öffentliche Zuschüsse, nur u.a. durch verzinste Anteilscheine und Sonderzuschläge. Am 30. Dezember 1914 wurde die Volksbühne eröffnet, Max Reinhard war ihr erster Direktor. Erwin Piscator prägte mit zehn Inszenierungen das Theater. Berlin war damit zum Vorreiter für die deutschlandweite „Volksbühnenbewegung“ geworden.

Ab 1933 wurde der Verein „Freie Volksbühne“ dem Einflussbereich des Propagandaministeriums unterstellt. 1939 wurde er endgültig zerschlagen, aus dem Vereinsregister gelöscht und das Vermögen beschlagnahmt. Im 2. Weltkrieg wurde das Haus stark zerstört. Nach dem Krieg erfolgte die Teilung der Stadt, nur im Westteil gab es eine Wiedergründung des Vereins „Freie Volksbühne“. Ab 1947 wurde der Verein als Besucherorganisation mit eigenem Ensemble-Spielbetrieb ins Leben gerufen. Spielort war nun das Theater am Kurfürstendamm. Das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz wurde zwar wiederaufgebaut und ein beliebtes Theater, doch einen Verein gab es nicht. Zum Zeitpunkt des Mauerbaus zählte der Verein „Freie Volksbühne“ mehr als 100.000 Mitglieder aus ganz Berlin. Bekannte Regisseure, wie Erwin Piscator, Peter Zadeck, Claus Peymann, Reiner Werner Fassbinder und Hans Neuenfels, waren dort tätig. 1963 eröffnete in der Schaperstraße die neue Spielstätte des Vereins, wie zu Beginn der Bewegung ganz ohne öffentliche Mittel finanziert. Seit 1990 gibt es nun wieder den gemeinsamen Verein „Freie Volksbühne“, seit 2017 unter dem neuen Namen „Kulturvolk“.

Die wechselvolle Geschichte des Vereins ist ein Spiegelbild der Zeitgeschichte. Heute ist „Kulturvolk – Freie Volksbühne Berlin“ ein gemeinnütziger Kulturverein, der seinen Mitgliedern Beratung und Buchung von bis zu 40 % vergünstigten Preisen für Veranstaltungen anbietet. Denn auch in der heutigen Zeit können es sich viele Menschen nicht leisten, die hohen Preise für kulturelle Veranstaltungen zu bezahlen. Monika R. aus Charlottenburg ist seit 35 Jahren Mitglied. Bereits als Studentin trat sie dem Verein bei und ist noch immer von dem Konzept überzeugt. Sie erzählt: „Kultur, besonders aber Theater war für mich immer wichtig. Ein Verein wie ‚Kulturvolk – Freie Volksbühne‘ gibt den Kulturfreund*innen mit dem monatlich erscheinenden Magazin tolle Tipps für anstehende Aufführungen. Neben interessanten Anmerkungen zu Theaterinszenierungen werden dort auch Konzerte, Shows und Kabarettprogramme vorgestellt, sodass die Kulturliebhaber*innen die Qual der Wahl haben. Und zwar zu fairen Preisen! Ich wünsche dem ‚Kulturvolk‘ eine erfolgreiche Fortführung der Idee einer Kultur für alle Menschen. Leider muss auch dieser Verein nun durch die Auswirkungen der Pandemie um sein Fortbestehen bangen.“

Der 130. Jahrestag der Gründung des Kulturvereins sollte im März 2020 gebührend gefeiert werden. Doch Corona kam dazwischen. In der Hoffnung, im Herbst die Feier pandemiefrei nachholen zu können, wurde der Termin auf Ende Oktober verschoben. Ganz knapp vor dem nächsten Lockdown fand die Feier als „Jubiläumsrevue“ unter dem Titel „Teatro Piscator!“ statt. Unter der Regie von Christian Filips spielten, sangen und tanzten Ilse Ritter, Ilja Richter, Hermann Treusch, Hubert Wild sowie das Piscator-Orchestra, Männer des Staats- und Domchors Berlin und viele andere. Dabei wurde in Schlaglichtern an die stolze Tradition der „Volksbühnenbewegung“ erinnert und darauf hingewiesen, wie die umtriebige und traditionsreichste Publikums- und Besucherorganisation das Berliner Kulturleben bereichert. Nach wie vor ist sie unverzichtbar! Darauf wies auch der Regierende Bürgermeister Berlins in seinem Grußwort hin, denn auch heute heißt es: „Die Kunst dem Volke!“