Nach West nach Ost nach West | Mein Wohnen in Berlin

Blick aus dem Tränenpalast, Foto: B. Seeler, 2020

Berlin, deine Einwohnerschaft besteht aus originalen Berlinern und den Zugezogenen. Die Originalberliner scheinen in der Minderheit, kaum kennt man einen. Doch das täuscht, es sind mit über 1,7 Millionen fast die Hälfte. Die andere Hälfte besteht aus den Wahlberlinern. Sie wollten in die Stadt, ihr Herz schlägt für die Stadt und viele hatten in ihrer ersten Wohnung einen Kachelofen. Wer nun solch einen Kachelofen hatte, der wird, wie mir einmal ein Berliner Filmkomponist versicherte, ebenfalls zum „echten Berliner“. Insofern fühle ich mich seit dreiunddreißig Jahren als Berliner, ohne dass ich meine Bewunderung für die noch echteren, die ganz originalen Berliner, je aufgegeben hätte. Viele von ihnen kennen noch „Das Insulaner Lied“ von Klaus Neumann.

Jeder, der nach Berlin zieht, hat seine ganz persönlichen Gründe. Mal ist es die Liebe, mal ist es der Beruf, mal war es die Bundeswehr. Meine Gründe, nach Berlin zu ziehen, waren anderer Natur. Ich fühlte mich Mitte der achtziger Jahre nicht mehr richtig wohl in der Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft, sie wurde mir zu eng. Die sechsteilige Unterhaltungsserie „Kir Royal“ aus dem Jahr 1985 von Helmut Dietl ist in Wahrheit ein Dokumentarfilm, ich habe es erlebt und daraus entwickelte sich eine Sehnsucht zurück nach ganz normalen Menschen. Für mich als Großstadtkind gab es nun zwei Alternativen, Hamburg und Berlin. Hamburg war mir fremd und blieb mir fremd. Berlin kannte ich durch die Filmfestspiele, es war kalt, es stank nach Kohle, das Bier war billig, die Leute schroff. Genau die richtige Mischung. Bei minus sechzehn Grad Celsius traf ich im Februar 1987 mit meinem übersichtlichen Hausrat in der Sonnenallee am Hermannplatz ein. Die ersten Wochen konnte ich bei einem Freund wohnen. Wir liefen die Straßen ab, gingen in die Eingänge interessanter Häuser und schrieben die Telefonnummern der Hausverwaltungen auf. Schon nach dem dritten Telefonat hatte ich eine mündliche Zusage für eine Wohnung in der Blücherstraße am Südstern.  Ja, so einfach war das damals. Ich besuchte den Vermieter, Herrn Sömling, und musste mich weder erklären, noch anpreisen, noch bewerben. Er zeigte mir eine leerstehende Wohnung in einem seiner vier Hinterhöfe, erzählte mir, wie vor dem Krieg gegenüber die Soldaten trainiert haben, und gab mir, zurück in seinem Büro, den Mietvertrag zur Unterschrift. Die Miete betrug 160,- DM und man bezahlte bar. Herr Sömling residierte hinter einem großen alten Schreibtisch, der diagonal in einem Zimmer stand und hinter dem man in eine lange Flucht mehrerer Zimmer blickte, die bis zur Decke mit Sperrmüll und Metallgegenständen angefüllt waren. Ganz hinten im Halbdunkel huschte ab und zu etwas durch die Gänge, das war seine Frau, wie er mir sagte. Er war nämlich nebenbei auch Gebrauchtwarenhändler und bei dem großen Volumen seines Lagers auf die Mitarbeit der Familie angewiesen. Vor ihm lag ein riesiges Buch, in der Mitte aufgeschlagen. Das war keine Bibel. Es war das Mieterbuch, und in dieses trug er in langen Kolonnen die Mietzahlungen säuberlich ein. Die Wohnung war eine typische Berliner Anfängerwohnung im nobleren Teil Kreuzbergs, damals „Berlin 61“ genannt. Sehr alter Altbau, mit viel Patina und sehr romantisch und sehr alt, der Kitt fiel aus den Fensterrahmen, geheizt wurde das große Zimmer mit einem Kachelofen, die Küche mit einem Allesbrenner und die keineswegs selbstverständliche Innentoilette gar nicht. Hier lebte ich fünf glückliche Jahre. Durch das Fenster im Zimmer konnte man aufs Dach klettern, auf dem ich Grillfeste, Geburtstagsfeiern und Silvesterpartys veranstaltete. Einmal kletterte mein Nachbar mit seiner Trompete auf einen der Schornsteine, die damals noch in Betrieb waren, und gab zur Unterhaltung der Gäste ein Ständchen. Unvergessen, und nie ist irgendjemandem etwas passiert, aus meiner heutigen Sicht ein Wunder.

Dann kam der Fall der Mauer und jeder Schritt in der Stadt war plötzlich ein historischer. Sobald es möglich war, erkundete ich mit dem Fahrrad die neu zu entdeckenden Bezirke Ost-Berlins und lernte das Leben in der ehemaligen Hauptstadt der DDR aus erster Hand kennen. Neue Freundschaften entstanden und neue Orte öffneten sich. Ich besuchte gerne Konzerte, Ausstellungen und Feste im „Haus der jungen Talente“ im Klosterviertel, das später zum „Podewil“ wurde. Mein Wohnhaus in der Blücherstraße wurde während dieser Zeit an ein junges schickes Architektenpaar verkauft, das es komplett modernisieren wollte. „Zeit für einen Umzug in den Ostteil der Stadt“, dachte ich mir und wurde Stammgast bei der WBM (Wohnungsbaugesellschaft Mitte, davor Kommunale Wohnungsverwaltung, KWV). Nach Monaten der Suche und des Verhandelns bekam ich vom Sachbearbeiter eine Zweiraumwohnung in der Marienstraße in Friedrich-Wilhelm-Stadt gleich gegenüber des Deutschen Theaters zugewiesen. Ich befand mich nun in einer völlig neuen Wohnsituation: ohne Telefon aber mit „Gamat“-Außenwandheizungen. Sie waren nicht immer einfach zu bedienen und ich hatte gehörigen Respekt vor ihnen, aber sie heizten die Zimmer auch bei schlimmen Minusgraden hervorragend. Zum Telefonieren ging man hinunter und drei Häuser weiter gab es einen Münzfernsprecher in einem Hauseingang, vor dem man sich nur in die kleine Warteschlange einreihen musste. Dunkel waren die Straßen und Fassaden, und die Stahlbrücke unter dem Gleiskörper der S-Bahn, die vom Schiffbauerdamm über die Spree direkt in den Bahnhof Friedrichstraße führte, rostig und spinnwebenverhangen. Hier in Mitte erlebte ich die spannende Nachwendezeit mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten aufgrund des allgemeinen Durcheinanders, denn ­viele Zuständigkeiten und Besitzverhältnisse waren noch ungeklärt. In verlassenen Fabriketagen und Geschäften etablierten sich wöchentlich neue Clubs, die zwar illegal aber umso angesagter waren. Ständig bekam man einen neuen Tipp, in welcher dunklen Straße an welcher unscheinbaren Tür man zu klingeln hatte. Zum Beispiel beim „Friseur“ in der Taubenstraße. Dort legten DJs auf, spielten Bands und betraten KleinkünstlerInnen die Bühne. Manche Clubs wurden in Wohnungen gegründet und hießen auch so, wie das „Wohnzimmer“. Unvergesslich für mich der etablierte Sophienclub, der 1984 als Jugenddiskothek eingerichtet wurde und in einer Toreinfahrt zu den Hackeschen Höfen lag. Dort wurde multikulturell (Ossis und Wessis) bis früh getrunken und getanzt. Der Gin Tonic kostete nur eine Mark achtzig. Techno war dort zum Glück noch nicht angekommen und so hüpfte ich ausgelassen auf der engen Tanzfläche in der fröhlichen Menge zu George Bensons „On Broadway“.

Von der Küche meiner Wohnung blickte man aufs Deutsche Theater und vom Wohnzimmer sah man einen der Ecktürme des Reichstagsgebäudes. Dessen Verhüllung 1995 durch Christo und Jeanne-Claude erlebte ich hautnah mit. Es war spannend, die Monteure, wie Bergsteiger an langen Seilen mit Karabinern gesichert, die Fassaden hinauf und hinab schwingen zu sehen. Auch den Aufstieg des Kunsthauses Tacheles erlebte ich aus nächster Nähe. Ein Bekannter hatte dort sein Atelier und ständig gab es Aktionen und Ausstellungen in den weitläufigen abgeblätterten Gängen und Räumen. Irgendwann wurde auch ein Kino installiert und ich sah dort viele selten gezeigte Filme, darunter Tarkowskis „Stalker“ und „Solaris“. Nicht weit von meiner Wohnung lag auch der „Tränenpalast“. Ich musste nur über die Eisenbrücke vom Schiffbauerdamm hinüber in den Bahnhof Friedrichstraße gehen, schon stand ich vor der ehemaligen „Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße“ mit ihrer charakteristischen Glasfassade. Ich kannte sie von früheren Besuchen Ost-Berlins mit all den Absperrungen und Kontrollhäuschen zur Ein- und Ausreise in die Deutsche Demokratische Republik. Nun war der „Tränenpalast“ zu einem kulturellen Veranstaltungsort geworden und ich vergesse nie diesen einen Abend: Nach einem langen warmen Sommertag 1992 besuchte ich dort eine Stummfilmvorführung. Ich konnte einen der letzten freien Sitze am Rand des Saales ergattern, während sich die hereinströmenden Besucher auf dem Boden, den Treppenstufen und sogar den Simsen vor den hohen Glasfenstern niederließen. Auf der Leinwand startete der Filmklassiker „Menschen am Sonntag“ von Robert Siodmak aus dem Jahr 1930. Er spielt in Berlin und erzählt vom Alltagsleben des Taxifahrers Erwin, der Schallplattenverkäuferin Brigitte, des Weinverkäufers Wolfgang, der Komparsin Christel und des Models Anni. Neben der Leinwand war ein Klavier aufgestellt, an dem der hochbetagte Stummfilm-Pianist Willy Sommerfeld saß und „Menschen am Sonntag“ live begleitete. Ein Höhepunkt des Filmes ist der Ausflug mit der S-Bahn zum Strandbad Wannsee. Aus irgendeinem Grund schweifte mein Blick von der Leinwand ab und ich sah den abendlichen Bahnhof Friedrichstraße durch die hohen Glasfenster. Eine S-Bahn fuhr langsam aus dem Bahnhof. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass das dieselbe Bahn wie im Film war, die S-Bahn Richtung Wannsee. Alles kam zusammen: über sechzig Jahre Berlingeschichte, Krieg, Zerstörung, Teilung, Wiedervereinigung – und hier sitzen wir und schauen – und die S-Bahn fährt immer noch nach Wannsee.

Zum Ende der neunziger Jahre wurde auch das Haus in der Marienstraße verkauft und luxuriös modernisiert. Schließlich brauchten die vielen Zuziehenden aus Bonn ordentliche Wohnungen in Nähe des Regierungsviertels und „Gamat“-Außenwandheizungen waren für sie keine Option. Es wurden Teppiche im Treppenhaus verlegt, im Hinterhof ein Springbrunnen errichtet, die dunklen abgeblätterten Fassaden neu verputzt und hell angestrichen. Ich zog weiter und mein Wohnen in Berlin erhielt ein neues Kapitel.

Einer meiner besten Freunde wohnte seit den frühen achtziger Jahren in Neukölln. Ein Bezirk, den man, wie ganz Berlin, zugleich lieben und hassen kann. Im Oktober 1997 erschien in „Der Spiegel“ eine groß aufgemachte Titelgeschichte „Endstation Neukölln“. Sie zeichnete ein Bild, das mit der dortigen Lebenswirklichkeit, wie ich sie kannte, wenig zu tun hatte. Nichtberliner mussten nach dem Lesen der Reportage denken, dass man sich in Neukölln ständig in Lebensgefahr befand und froh sein konnte, wenn man den nächsten Tag erlebte. Das konnte ich so nicht stehen lassen und nahm meine dritte Wohnung auf der Sonnenallee in der Nähe des Hermannplatzes. Es war eine bewusste Entscheidung doch leider musste ich nach einer Reihe unangenehmer Eindrücke zugeben, dass „Der Spiegel“ doch nicht so ganz falsch gelegen hatte. Die Wohnung war groß, hell, hatte Zentralheizung, ein gekacheltes Badezimmer und eine moderne Einbauküche. Ich kann sagen, ich war bürgerlicher geworden. Um die Wohnung herum tobte das Leben, man konnte nachts nicht immer schlafen. Die Croissants vom türkischen Bäcker schmeckten ein bisschen nach Börek, vor meiner Haustür lag eines Morgens ein Blumenkranz mit Fotokarte neben einem großen braunen Fleck, denn eine Frau war dort getötet worden, und ich musste sogar einmal die Polizei mit meinem ersten Handy rufen, weil ich Zeuge wurde, wie ein junger Mann hinter einem anderen herlief und ihn mit einem Messer attackierte. Blaulichter mit Sirenen kamen aus mehreren Richtungen innerhalb einer Minute. Neukölln funktionierte. Aber ich gebe zu, es war anstrengend. Meine Wohnung nannte ich fortan eine „ruhige Insel im Meer des Wahnsinns“. Ein anderes verlässliches Zentrum stellte für mich der Karstadt am Hermannplatz dar. Ende der zwanziger Jahre gebaut, von den Nazis zerstört, in den fünfziger Jahren wieder aufgebaut und Ende der Neunziger modernisiert und vergrößert. Während andere Kaufhäuser schon damals zugrunde gingen, zum Beispiel Hertie neben der Amerika Gedenkbibliothek am Blücherplatz oder Hertie auf der Karl-Marx-Straße, zog dieser Karstadt jeden Tag tausende von Kunden an. Während meiner Zeit auf der Sonnenallee war Neukölln noch nicht zu dem hippen Trendbezirk geworden, der er heute ist. Die vielen jungen Galerien und Cafés entstanden erst nach meinem Wegzug 2005. Ich jedenfalls war nach sechs Jahren Sonnenallee, Hermannplatz, Karl-Marx-Straße, Hermannstraße, Kottbusser Damm und Hasenheide erschöpft. Man wird ja nicht jünger. Da hatte ich eine Idee, über die ich zwanzig Jahre zuvor noch die Nase gerümpft hätte: Ich wollte in eine ruhigere Gegend ziehen, nach Schöneberg, ins Bayerische Viertel. Der Wohnungsmarkt aber hatte sich im Vergleich zu 1987 verändert. Es gab keine Herr Sömlings mehr. Alles war verkauft, saniert, modernisiert und wurde teuer vermietet. Trotzdem dauerte es nur drei Jahre bis ich in meinem Wunschviertel hinter dem Viktoria-Luise-Platz eine Wohnung fand. Es ist die kleinste, die ich bisher hatte, und die schönste. Sie liegt ebenerdig und immer habe ich das Gefühl, in meinem eigenen Bungalow zu wohnen, denn man geht einfach rein und raus, keine Treppen, kein Fahrstuhl. Vor dem Balkon, den ich „meine Terrasse“ nenne, parken zwar Autos im lichten Hinterhof, aber es gibt auch Bäume und Rasen. Die Stadtperspektive ist eine ganz andere dort. Man betrachtet das tobende Leben aus einer gewissen Distanz. Die Leute halten sich gegenseitig die Tür auf und grüßen höflich. Das Eis schmeckt. Ich bin umgeben von Cafés, Restaurants, kleinen und großen Läden, von denen das KaDeWe, in Laufweite, der größte ist. Es gibt sogar eine „Münchener Straße“, um mich daran zu erinnern, warum ich einst hierher zog.

Berlin, du hast mich gut aufgenommen.

Nach West nach Ost nach West | Mein Wohnen in Berlin

Benjamin Seeler

Berlin, deine Einwohnerschaft besteht aus originalen Berlinern und den Zugezogenen. Die Originalberliner scheinen in der Minderheit, kaum kennt man einen. Doch das täuscht, es sind mit über 1,7 Millionen fast die Hälfte. Die andere Hälfte besteht aus den Wahlberlinern. Sie wollten in die Stadt, ihr Herz schlägt für die Stadt und viele hatten in ihrer ersten Wohnung einen Kachelofen. Wer nun solch einen Kachelofen hatte, der wird, wie mir einmal ein Berliner Filmkomponist versicherte, ebenfalls zum „echten Berliner“. Insofern fühle ich mich seit dreiunddreißig Jahren als Berliner, ohne dass ich meine Bewunderung für die noch echteren, die ganz originalen Berliner, je aufgegeben hätte. Viele von ihnen kennen noch „Das Insulaner Lied“ von Klaus Neumann.

Jeder, der nach Berlin zieht, hat seine ganz persönlichen Gründe. Mal ist es die Liebe, mal ist es der Beruf, mal war es die Bundeswehr. Meine Gründe, nach Berlin zu ziehen, waren anderer Natur. Ich fühlte mich Mitte der achtziger Jahre nicht mehr richtig wohl in der Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft, sie wurde mir zu eng. Die sechsteilige Unterhaltungsserie „Kir Royal“ aus dem Jahr 1985 von Helmut Dietl ist in Wahrheit ein Dokumentarfilm, ich habe es erlebt und daraus entwickelte sich eine Sehnsucht zurück nach ganz normalen Menschen. Für mich als Großstadtkind gab es nun zwei Alternativen, Hamburg und Berlin. Hamburg war mir fremd und blieb mir fremd. Berlin kannte ich durch die Filmfestspiele, es war kalt, es stank nach Kohle, das Bier war billig, die Leute schroff. Genau die richtige Mischung. Bei minus sechzehn Grad Celsius traf ich im Februar 1987 mit meinem übersichtlichen Hausrat in der Sonnenallee am Hermannplatz ein. Die ersten Wochen konnte ich bei einem Freund wohnen. Wir liefen die Straßen ab, gingen in die Eingänge interessanter Häuser und schrieben die Telefonnummern der Hausverwaltungen auf. Schon nach dem dritten Telefonat hatte ich eine mündliche Zusage für eine Wohnung in der Blücherstraße am Südstern.  Ja, so einfach war das damals. Ich besuchte den Vermieter, Herrn Sömling, und musste mich weder erklären, noch anpreisen, noch bewerben. Er zeigte mir eine leerstehende Wohnung in einem seiner vier Hinterhöfe, erzählte mir, wie vor dem Krieg gegenüber die Soldaten trainiert haben, und gab mir, zurück in seinem Büro, den Mietvertrag zur Unterschrift. Die Miete betrug 160,- DM und man bezahlte bar. Herr Sömling residierte hinter einem großen alten Schreibtisch, der diagonal in einem Zimmer stand und hinter dem man in eine lange Flucht mehrerer Zimmer blickte, die bis zur Decke mit Sperrmüll und Metallgegenständen angefüllt waren. Ganz hinten im Halbdunkel huschte ab und zu etwas durch die Gänge, das war seine Frau, wie er mir sagte. Er war nämlich nebenbei auch Gebrauchtwarenhändler und bei dem großen Volumen seines Lagers auf die Mitarbeit der Familie angewiesen. Vor ihm lag ein riesiges Buch, in der Mitte aufgeschlagen. Das war keine Bibel. Es war das Mieterbuch, und in dieses trug er in langen Kolonnen die Mietzahlungen säuberlich ein. Die Wohnung war eine typische Berliner Anfängerwohnung im nobleren Teil Kreuzbergs, damals „Berlin 61“ genannt. Sehr alter Altbau, mit viel Patina und sehr romantisch und sehr alt, der Kitt fiel aus den Fensterrahmen, geheizt wurde das große Zimmer mit einem Kachelofen, die Küche mit einem Allesbrenner und die keineswegs selbstverständliche Innentoilette gar nicht. Hier lebte ich fünf glückliche Jahre. Durch das Fenster im Zimmer konnte man aufs Dach klettern, auf dem ich Grillfeste, Geburtstagsfeiern und Silvesterpartys veranstaltete. Einmal kletterte mein Nachbar mit seiner Trompete auf einen der Schornsteine, die damals noch in Betrieb waren, und gab zur Unterhaltung der Gäste ein Ständchen. Unvergessen, und nie ist irgendjemandem etwas passiert, aus meiner heutigen Sicht ein Wunder.

Dann kam der Fall der Mauer und jeder Schritt in der Stadt war plötzlich ein historischer. Sobald es möglich war, erkundete ich mit dem Fahrrad die neu zu entdeckenden Bezirke Ost-Berlins und lernte das Leben in der ehemaligen Hauptstadt der DDR aus erster Hand kennen. Neue Freundschaften entstanden und neue Orte öffneten sich. Ich besuchte gerne Konzerte, Ausstellungen und Feste im „Haus der jungen Talente“ im Klosterviertel, das später zum „Podewil“ wurde. Mein Wohnhaus in der Blücherstraße wurde während dieser Zeit an ein junges schickes Architektenpaar verkauft, das es komplett modernisieren wollte. „Zeit für einen Umzug in den Ostteil der Stadt“, dachte ich mir und wurde Stammgast bei der WBM (Wohnungsbaugesellschaft Mitte, davor Kommunale Wohnungsverwaltung, KWV). Nach Monaten der Suche und des Verhandelns bekam ich vom Sachbearbeiter eine Zweiraumwohnung in der Marienstraße in Friedrich-Wilhelm-Stadt gleich gegenüber des Deutschen Theaters zugewiesen. Ich befand mich nun in einer völlig neuen Wohnsituation: ohne Telefon aber mit „Gamat“-Außenwandheizungen. Sie waren nicht immer einfach zu bedienen und ich hatte gehörigen Respekt vor ihnen, aber sie heizten die Zimmer auch bei schlimmen Minusgraden hervorragend. Zum Telefonieren ging man hinunter und drei Häuser weiter gab es einen Münzfernsprecher in einem Hauseingang, vor dem man sich nur in die kleine Warteschlange einreihen musste. Dunkel waren die Straßen und Fassaden, und die Stahlbrücke unter dem Gleiskörper der S-Bahn, die vom Schiffbauerdamm über die Spree direkt in den Bahnhof Friedrichstraße führte, rostig und spinnwebenverhangen. Hier in Mitte erlebte ich die spannende Nachwendezeit mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten aufgrund des allgemeinen Durcheinanders, denn ­viele Zuständigkeiten und Besitzverhältnisse waren noch ungeklärt. In verlassenen Fabriketagen und Geschäften etablierten sich wöchentlich neue Clubs, die zwar illegal aber umso angesagter waren. Ständig bekam man einen neuen Tipp, in welcher dunklen Straße an welcher unscheinbaren Tür man zu klingeln hatte. Zum Beispiel beim „Friseur“ in der Taubenstraße. Dort legten DJs auf, spielten Bands und betraten KleinkünstlerInnen die Bühne. Manche Clubs wurden in Wohnungen gegründet und hießen auch so, wie das „Wohnzimmer“. Unvergesslich für mich der etablierte Sophienclub, der 1984 als Jugenddiskothek eingerichtet wurde und in einer Toreinfahrt zu den Hackeschen Höfen lag. Dort wurde multikulturell (Ossis und Wessis) bis früh getrunken und getanzt. Der Gin Tonic kostete nur eine Mark achtzig. Techno war dort zum Glück noch nicht angekommen und so hüpfte ich ausgelassen auf der engen Tanzfläche in der fröhlichen Menge zu George Bensons „On Broadway“.

Von der Küche meiner Wohnung blickte man aufs Deutsche Theater und vom Wohnzimmer sah man einen der Ecktürme des Reichstagsgebäudes. Dessen Verhüllung 1995 durch Christo und Jeanne-Claude erlebte ich hautnah mit. Es war spannend, die Monteure, wie Bergsteiger an langen Seilen mit Karabinern gesichert, die Fassaden hinauf und hinab schwingen zu sehen. Auch den Aufstieg des Kunsthauses Tacheles erlebte ich aus nächster Nähe. Ein Bekannter hatte dort sein Atelier und ständig gab es Aktionen und Ausstellungen in den weitläufigen abgeblätterten Gängen und Räumen. Irgendwann wurde auch ein Kino installiert und ich sah dort viele selten gezeigte Filme, darunter Tarkowskis „Stalker“ und „Solaris“. Nicht weit von meiner Wohnung lag auch der „Tränenpalast“. Ich musste nur über die Eisenbrücke vom Schiffbauerdamm hinüber in den Bahnhof Friedrichstraße gehen, schon stand ich vor der ehemaligen „Ausreisehalle der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße“ mit ihrer charakteristischen Glasfassade. Ich kannte sie von früheren Besuchen Ost-Berlins mit all den Absperrungen und Kontrollhäuschen zur Ein- und Ausreise in die Deutsche Demokratische Republik. Nun war der „Tränenpalast“ zu einem kulturellen Veranstaltungsort geworden und ich vergesse nie diesen einen Abend: Nach einem langen warmen Sommertag 1992 besuchte ich dort eine Stummfilmvorführung. Ich konnte einen der letzten freien Sitze am Rand des Saales ergattern, während sich die hereinströmenden Besucher auf dem Boden, den Treppenstufen und sogar den Simsen vor den hohen Glasfenstern niederließen. Auf der Leinwand startete der Filmklassiker „Menschen am Sonntag“ von Robert Siodmak aus dem Jahr 1930. Er spielt in Berlin und erzählt vom Alltagsleben des Taxifahrers Erwin, der Schallplattenverkäuferin Brigitte, des Weinverkäufers Wolfgang, der Komparsin Christel und des Models Anni. Neben der Leinwand war ein Klavier aufgestellt, an dem der hochbetagte Stummfilm-Pianist Willy Sommerfeld saß und „Menschen am Sonntag“ live begleitete. Ein Höhepunkt des Filmes ist der Ausflug mit der S-Bahn zum Strandbad Wannsee. Aus irgendeinem Grund schweifte mein Blick von der Leinwand ab und ich sah den abendlichen Bahnhof Friedrichstraße durch die hohen Glasfenster. Eine S-Bahn fuhr langsam aus dem Bahnhof. Da wurde mir plötzlich bewusst, dass das dieselbe Bahn wie im Film war, die S-Bahn Richtung Wannsee. Alles kam zusammen: über sechzig Jahre Berlingeschichte, Krieg, Zerstörung, Teilung, Wiedervereinigung – und hier sitzen wir und schauen – und die S-Bahn fährt immer noch nach Wannsee.

Zum Ende der neunziger Jahre wurde auch das Haus in der Marienstraße verkauft und luxuriös modernisiert. Schließlich brauchten die vielen Zuziehenden aus Bonn ordentliche Wohnungen in Nähe des Regierungsviertels und „Gamat“-Außenwandheizungen waren für sie keine Option. Es wurden Teppiche im Treppenhaus verlegt, im Hinterhof ein Springbrunnen errichtet, die dunklen abgeblätterten Fassaden neu verputzt und hell angestrichen. Ich zog weiter und mein Wohnen in Berlin erhielt ein neues Kapitel.

Einer meiner besten Freunde wohnte seit den frühen achtziger Jahren in Neukölln. Ein Bezirk, den man, wie ganz Berlin, zugleich lieben und hassen kann. Im Oktober 1997 erschien in „Der Spiegel“ eine groß aufgemachte Titelgeschichte „Endstation Neukölln“. Sie zeichnete ein Bild, das mit der dortigen Lebenswirklichkeit, wie ich sie kannte, wenig zu tun hatte. Nichtberliner mussten nach dem Lesen der Reportage denken, dass man sich in Neukölln ständig in Lebensgefahr befand und froh sein konnte, wenn man den nächsten Tag erlebte. Das konnte ich so nicht stehen lassen und nahm meine dritte Wohnung auf der Sonnenallee in der Nähe des Hermannplatzes. Es war eine bewusste Entscheidung doch leider musste ich nach einer Reihe unangenehmer Eindrücke zugeben, dass „Der Spiegel“ doch nicht so ganz falsch gelegen hatte. Die Wohnung war groß, hell, hatte Zentralheizung, ein gekacheltes Badezimmer und eine moderne Einbauküche. Ich kann sagen, ich war bürgerlicher geworden. Um die Wohnung herum tobte das Leben, man konnte nachts nicht immer schlafen. Die Croissants vom türkischen Bäcker schmeckten ein bisschen nach Börek, vor meiner Haustür lag eines Morgens ein Blumenkranz mit Fotokarte neben einem großen braunen Fleck, denn eine Frau war dort getötet worden, und ich musste sogar einmal die Polizei mit meinem ersten Handy rufen, weil ich Zeuge wurde, wie ein junger Mann hinter einem anderen herlief und ihn mit einem Messer attackierte. Blaulichter mit Sirenen kamen aus mehreren Richtungen innerhalb einer Minute. Neukölln funktionierte. Aber ich gebe zu, es war anstrengend. Meine Wohnung nannte ich fortan eine „ruhige Insel im Meer des Wahnsinns“. Ein anderes verlässliches Zentrum stellte für mich der Karstadt am Hermannplatz dar. Ende der zwanziger Jahre gebaut, von den Nazis zerstört, in den fünfziger Jahren wieder aufgebaut und Ende der Neunziger modernisiert und vergrößert. Während andere Kaufhäuser schon damals zugrunde gingen, zum Beispiel Hertie neben der Amerika Gedenkbibliothek am Blücherplatz oder Hertie auf der Karl-Marx-Straße, zog dieser Karstadt jeden Tag tausende von Kunden an. Während meiner Zeit auf der Sonnenallee war Neukölln noch nicht zu dem hippen Trendbezirk geworden, der er heute ist. Die vielen jungen Galerien und Cafés entstanden erst nach meinem Wegzug 2005. Ich jedenfalls war nach sechs Jahren Sonnenallee, Hermannplatz, Karl-Marx-Straße, Hermannstraße, Kottbusser Damm und Hasenheide erschöpft. Man wird ja nicht jünger. Da hatte ich eine Idee, über die ich zwanzig Jahre zuvor noch die Nase gerümpft hätte: Ich wollte in eine ruhigere Gegend ziehen, nach Schöneberg, ins Bayerische Viertel. Der Wohnungsmarkt aber hatte sich im Vergleich zu 1987 verändert. Es gab keine Herr Sömlings mehr. Alles war verkauft, saniert, modernisiert und wurde teuer vermietet. Trotzdem dauerte es nur drei Jahre bis ich in meinem Wunschviertel hinter dem Viktoria-Luise-Platz eine Wohnung fand. Es ist die kleinste, die ich bisher hatte, und die schönste. Sie liegt ebenerdig und immer habe ich das Gefühl, in meinem eigenen Bungalow zu wohnen, denn man geht einfach rein und raus, keine Treppen, kein Fahrstuhl. Vor dem Balkon, den ich „meine Terrasse“ nenne, parken zwar Autos im lichten Hinterhof, aber es gibt auch Bäume und Rasen. Die Stadtperspektive ist eine ganz andere dort. Man betrachtet das tobende Leben aus einer gewissen Distanz. Die Leute halten sich gegenseitig die Tür auf und grüßen höflich. Das Eis schmeckt. Ich bin umgeben von Cafés, Restaurants, kleinen und großen Läden, von denen das KaDeWe, in Laufweite, der größte ist. Es gibt sogar eine „Münchener Straße“, um mich daran zu erinnern, warum ich einst hierher zog.

Berlin, du hast mich gut aufgenommen.