Jedes Jahr wird der Öffentlichkeit die Statistik Zugezogener in Berlin vorgelegt. Was diese Menschen aus dem In- und Ausland zu sagen, was sie der Metropole zu geben haben, darüber schweigen die Zahlen. Die Neuberliner, die diese Stadt zu ihrer Wahlheimat gemacht haben, vor Kurzem oder vor mehreren Jahren: Das sind auch Vertreter der Berufsgruppen der Bildenden und Darstellenden Kunst, Musik,  Fotografie, Literatur sowie Regisseure,  KuratorInnen und Galeristen. Mit dieser Zielgruppe will der Kulturring näher ins Gespräch kommen. Er strebt an,  sie als Person und ihre Arbeit öffentlich sichtbar zu machen. Dies hinsichtlich ihrer unterschiedlich gelagerten Biographien, ihrer Überzeugungen und künstlerischen Leistungen.  Unser Motto: "Gesprächsfreude grenzenlos". 

Im Kontakt mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem Ausland – z.B. jene, die ihr Atelier in den ID-Studios Hohenschönhausen haben – fällt auf, dass manche von ihnen aufgrund von Sprachbarrieren einem Podcast-Interview eher zurückhaltend gegenüberstehen. Die Selbsteinschätzung, nicht "perfekt" Deutsch zu sprechen,  gibt hierfür oftmals den Grund ab. Prinzipiell würden die Betreffenden sehr gerne ein Interview geben –  in englischer Sprache. Auf Englisch geführte Gespräche werden in einer übersetzten deutschen Fassung auf den Projektseiten abgedruckt erscheinen. In allen anderen Fällen werden  die Interviews als Podcasts in deutscher Sprache veröffentlicht.

Das Projekt startet im Februar 2024 mit Street Artist Sébastien Nayener aus Frankreich,  gefolgt von der Malerin und Waldtherapeutin Dagna Gmitrovicz aus Polen. Als Gesprächspartner vorgesehen ist ebenfalls der Konzeptkünstler Markus Feiler aus Rotenburg. Im Verlauf des Jahres 2024 folgen weitere Interviews. Das Format "Literatinnen und Literaten in den Ring!" wird 2025 in das Projekt mit einem größeren Bezugsrahmen "Begegnungen Wort-Wörtlich" einmünden.  In das  neue Projekt werden zusätzliche Vertreter der Berlin-Brandenburgischen Kulturszene eingebunden.

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"Encounters, literally"

Boundless joy of conversation with artists and cultural workers from Germany and abroad

Every year, the statistics of incomers to Berlin are presented to the public. What these new citizens from home and abroad have to tell, what they have to add to the metropolis, the figures are silent about that. The new Berliners who have made this city their adopted home, recently or a couple of years ago: They are, in part, representatives of the visual and performing arts, of music, photography, literature as well as film- and stage-directors, curators and gallery owners. The Kulturring aims to get into closer conversation with this particular target group. We firmly wish to make these artists publicly visible in terms of their diverging biographies, their convictions and artistic achievements. Our slogan: "Joy of conversation without bounds". 

In contact with artists from abroad – e.g. those who have their workshop in the ID-Studios Hohenschönhausen – it has become noticeable that some of them are fairly reluctant  to give a podcast interview due to language barriers. The implied self-assessment of not speaking "perfect" German is a common reason for this. In principle, the potential respondents would very much like to give an interview – in English. Conversations conducted in English will be printed in a translated German version on the project pages of the Kulturring.  In all other cases, the interviews will be published as podcasts in German.

The project will start in February 2024 with Sébastien Nayener, French street artist, followed by painter and forest therapist Dagna Gmitrovicz from Poland. The conceptual artist Markus Feiler from Rotenburg is also intended to be a discussion partner. Further interviews will follow in the course of 2024.  In 2025, "Writers into the Ring!" will lead to the project with a broader frame of reference "Encounters, literally". Additional representatives from the Berlin-Brandenburg cultural scene will be involved in the new project.

Kontakt: martina.pfeiffer@kulturring.berlin

Wer nicht das Flugzeug nahm, nutzte die Bahn oder fuhr mit dem Auto. Die Züge wurden von Angehörigen der Passkontrolleinheit des Ministeriums für Staatssicherheit und der Transportpolizei begleitet. Diese liefen in mehreren Zweiergruppen durch die Abteile, um den Reisenden ein Transitvisum auszustellen und einen Einreisestempel in den Pass zu drücken. Zu diesem Zweck trugen die Grenzer eine aufklappbare Tasche um den Hals, die wie ein Bauchladen aussah und die notwendigen Utensilien enthielt. Bei der Ausreise wiederholte sich der Vorgang in umgekehrter Richtung, d. h. die Grenzer nahmen die Visa-Papiere wieder an sich und stempelten sie ein zweites Mal mit dem Vermerk „Ausreise“ ab. Die meisten Grenzer benahmen sich betont sachlich und distanziert, wirkten fast immer mürrisch und sprachen zudem meist einen sächsischen Dialekt. Den kannte ich aus meiner Kindheit bereits durch den Komiker Otto Waalkes und die Figur des Kantors Hampel aus den Karl May-Filmen. Da die Uniformhemden der Grenztruppen aus Kunstfasern bestanden, erinnere ich mich auch an den strengen Geruch, der bei diesen Begegnungen besonders im Sommer häufig wahrnehmbar war.                                       

Obwohl der Transit zwischen der BRD und West-Berlin laut des im Dezember 1971 unterzeichneten Transitabkommen „in der einfachsten, schnellsten und günstigsten Weise“ ¹ .  abgewickelt werden sollte, verlängerte sich die Reisezeit in meiner Erinnerung jedes Mal um fast zwei Stunden. Diese Verzögerung wurde durch den Zustieg der Grenzer, die quälend langsame Geschwindigkeit des Zuges und eine u. a. mit Hunden durchgeführte Kontrolle am Ausreise-Bahngleis verursacht.

Ähnlich kompliziert verlief der Transit per PKW. Nach dem Passieren zahlreicher auffällig platzierter Flaggen und anderer Hoheitszeichen wurde man in ein mehrspuriges Schleusensystem geleitet, an dessen Ende die eigentliche Abfertigung stand. Man fuhr an einer Bude vorbei, in der ein Grenzer durch ein kleines Fenster die Pässe entgegennahm. Er glich sie mit den Insassen des PKWs ab und legte sie auf ein ca. 50 Meter langes überdachtes Transportband, an dessen Ende an einer weiteren Bude die Rückgabe der gestempelten und mit einem Transitvisum ergänzten Dokumente stattfand. Diese 50 Meter ohne Papiere kamen mir oft sehr lang vor. Hielt der Reisende dann unaufgefordert die Hand aus dem geöffneten Seitenfenster, konnte es gerne noch länger dauern. Das gleiche Verfahren musste bei der Ausreise erneut durchlaufen werden. Gemeinsam war beiden Formen des Transits zum einen das häufig etwas beklemmende Gefühl, das viele Reisende während der Durchfahrt empfanden. Fast immer gab es im Auto oder im Zugabteil jemanden, der eine – meist eher gehörte als selbst erlebte – Gruselgeschichte über aus dem Fenster geworfene Zigarettenstummel oder Kaugummis erzählen konnte, die hohe zu entrichtende Strafen nach sich zogen. Zu begleichen waren diese Strafen in D-Mark. Ebenso kannte fast jeder eine Geschichte über die falsche Antwort auf die regelmäßig gestellte Frage, ob man „Waffen, Drogen oder Pornographie“ mit sich führen würde. Tatsächlich waren auf allen Transitautobahnen zur Überwachung.„ständig zivile Fahrzeuge mit Mitarbeitern des MfS unterwegs. Dabei kamen vereinzelt ´Westfahrzeuge` mit bundesdeutschen Kraftfahrzeugkennzeichen zum Einsatz …. (überwacht) wurde die Strecke aber auch durch zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter (beispielsweise Tankstellen-Mitarbeiter) und durch den DDR-Zoll und die Volkspolizei deren freiwillige Helfer.“ ²  ebd. Auf der gesamten Transitstrecke waren Begegnungen mit DDR-Bürgern verboten. Die  Autobahnen durften nicht verlassen werden. Erlaubt waren ausnahmslos nur kurze Aufenthalte an und in den Autobahnrastplätzen, Tankstellen, Intershops und in den Raststätten. Ich habe dort zweimal etwas zu Essen bestellt und es danach nicht wieder versucht. Die Inneneinrichtungen dieser Orte wirkten auf mich fremd, oft etwas heruntergekommen und abweisend, ebenso wie die Gestaltung der Grenzanlagen. Die DDR-Autobahnen bestanden aus Betonplatten, sodass die ganze Reise über ein wopp wopp wopp zu hören und bei Autos der unteren Preisklasse auch zu spüren war. Ein regelmäßig wiederkehrender Moment der Heiterkeit stellte sich daher auch fast immer ein, wenn man das über der Autobahn positionierte Schild mit der Aufschrift „Plaste und Elaste aus Schkopau!“ passiert hatte. Denn jetzt war klar, dass in etwa die Hälfte der Transitstrecke geschafft war. Zudem verlangsamte sich die Fahrt spürbar durch das für Westdeutsche ungewohnte, in der DDR geltende Tempolimit von 100 km/h. Ich bin kein Autofan, fand es aber nach dem jeweiligen Passieren einer Grenze in Richtung Westen jedes Mal als irgendwie befreiend, wenn der Fahrer wieder „normal Gas gab“. Jetzt könnte ich mit einem launigen Satz wie „Dann doch lieber Verspätung mit der Deutschen Bahn“ die Geschichte beenden. Tatsächlich hat sich die Fahrzeit für mich seit der Wiedervereinigung um etwa zwei Stunden verkürzt. Aber die Geschichte endet hier noch nicht.

Der Spiegel veröffentlichte 1994 eine Reportage des Journalisten Hans Halter ³ , in der detailliert beschrieben wurde, dass und wie eine Sondereinheit des Staatssicherheitsdienstes der DDR ab 1979 die Fahrzeuge im Transitverkehr mit Gammastrahlen durchleuchtete, um Flüchtlinge aufzuspüren. Das Transitabkommen sah vor, dass Fahrzeugkontrollen nur bei begründetem Verdacht erfolgen durften. Deshalb installierte und betrieb die Stasi heimlich unter dem Decknamen „Technik V“ an den Grenzübergangsstellen in und um Berlin, z. B. am „Checkpoint Charlie“ und an den Autobahnkontrollpunkten zwischen Ost- und Westdeutschland siebzehn radioaktive Gammakanonen. Mit diesen wurden Fahrzeuge harter ionisierender Gammastrahlung ausgesetzt. Die Bestrahlung durchdrang Karosserie und Bodenbleche 10 bis 30 Sekunden lang und machte so Flüchtlinge sichtbar, die sich im Strahlenfeld aufhielten ⁴ . Eine Gruppe von ca. 200 Stasi-Mitarbeitern durchleuchtete jedes Fahrzeug, Ausnahmen gab es selbst bei Schwangeren und Kindern nicht. Außer der russischen traf es selbst Diplomatenwagen osteuro-päischer Botschaften. Speziell Lastwagenfahrern im Transitverkehr konnte es passierten, dass sie mehrfach pro Woche bestrahlt wurden. „Ionisierende Strahlen dürfen, so bestimmen es internationale Verträge und die bundesdeutschen Gesetze, am Menschen nur zu dessen Wohl und niemals ohne eine ausdrückliche Zustimmung angewendet werden. Jede Strahlung, und sei sie noch so klein, kann in den Zellkernen eine tödliche Unordnung im Bauplan der Eiweißstrukturen in Gang setzen – Jahre oder Jahrzehnte später wird der strahleninduzierte Zellschaden als Krebs oder fötale Missbildung sichtbar“ ⁴.  Andere MfS-Angehörige durften von dieser Aktion nichts wissen. „Eine strenge Betrete-Ordnung hielt sie von den gefährlichen Punkten fern. Im Verzeichnis der vertraulichen Dienstanweisungen der Stasi kam diese Fahndungstechnik nicht vor.“ Diese in Brückenkonstruktionen über den Abfertigungsbereichen installierte Technik wurde kurz nach dem Fall der Mauer demontiert, Anfang 1990 entfernten Stasi-Mitarbeiter die letzten Überreste⁴.

Diese Technik wurde, wie die Mauer und die innerdeutschen Grenzanlagen, installiert, um Menschen an der Ausübung ihres Grundrechts auf Freizügigkeit zu hindern. Millionen  unschuldiger Menschen wurden dadurch geschädigt. Auch in diesem Fall hat sich kein Beteiligter je vor Gericht verantworten müssen.

1, 2) de.wikipedia.org/wiki/Transitverkehr_durch_die_DDR
3) Hans Halter: Strahlenbelastung. Es gibt kein Entrinnen. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1994, S. 176–180 vom 19. Dezember: www.spiegel.de/wissenschaft/es-gibt-kein-entrinnen
4) de.wikipedia.org/wiki/Innerdeutsche_Grenze
Siehe auch: Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze: Ein deutsches Bauwerk. Ch. Links Verlag. Berlin 2006 | S. 103