Eine Stunde Putin-Rede, ich lese aufmerksam. Ich will verstehen, was ein Diktator zu sagen hat. Da flattert mir das neuste Heft der Kultur-News, die jetzt kultur.txt heißt, auf den Tisch – mit dem Titel „20 Jahre Berliner Tschechow-Theater“. Und da kreisen meine Gedanken um Putin und Tschechow, und ich will nun – nach den Ergüssen eines Egomanen – in Tschechows klugen Gedanken Erbauung finden. „Alles in der Welt wird durch die Geschichte gerechtfertigt“, lese ich da – ein Satz, der Putins wirre Reflexionen nicht besser erscheinen lässt. Und dann: „Despoten sind anfällig für Illusionen.“ Na ja, das entschuldigt nichts. Doch schließlich sagte der russische Meister der Erzählung und Dramatik Folgendes: „Wenn Du das Leben begreifen willst, glaube nicht, was man sagt und was man schreibt, sondern beobachte selbst und denke nach.“ Kluge Worte. Die nächsten Tage sollten zeigen, was nur schwer zu begreifen ist. Die jüngste Tocotronic-Melodie hab ich noch im Ohr: „Nie wieder Krieg, keine Verletzung mehr. Nie wieder Krieg. Das ist doch nicht so schwer. Nie wieder Krieg, keine Verhetzung mehr. Nie wieder Krieg, in Dir, in uns, in mir.“ Die Zeile „Das ist doch nicht so schwer“ liest sich leicht, die Wirklichkeit zeigt uns aber, wie schwer es gerade ist. Der Krieg gegen die Ukraine wurde vom Präsidenten eines Landes angezettelt, das selbst unter dem letzten Krieg unermesslich zu leiden hatte. Das hat uns alle für den Moment sprachlos gemacht, und hilflos. Unser Verein hat sich seit den 1990er Jahren für unsere aus Russland und all den anderen früheren Sowjetrepubliken Zugewanderten stark gemacht, hat unzählige Veranstaltungen und Begegnungen organisiert, ja hat das Berliner Tschechow-Theater in Marzahn-Nordwest gegründet. Uns verbinden mit vielen der Zugewanderten rege Arbeitsbeziehungen und Freundschaften. Sie sind unsere Nachbarn und Kollegen und haben unser Leben bereichert. Natalia Sudnikovic mit ihrem Theater T & T, Alexander Reiser mit seinen Büchern, das Klassik-Duo MaSur mit dem Violinisten Andrej Sudnitsyn aus dem russischen Perwouralsk und der Pianistin Maryna Gontar aus dem ukrainischen Poltawa. Ich denke auch an Johann Keib und das Seniorenkabarettt „Alte Schachteln“ und an so manche Feste, russische und auch ukrainische, die wir im Kulturforum Hellersdorf gefeiert haben. Mit großen Sorgen blicken wir alle in die Zukunft. Die einzigen Waffen, die uns helfen angesichts dieses grausamen Krieges, sind Solidarität, Menschlichkeit und Einigkeit. Werfen wir dem russischen Diktator mit all seinen Lügen, Verbrechen und Hasstiraden die Worte Tschechows aus seinen Notizbüchern an den Kopf: „Die Blattlaus frisst Pflanzen, der Rost Metalle und die Lüge die Seele.“ Und rücken auch wir im Kulturring enger zusammen, lassen wir unter uns, unter all unseren Freunden – woher auch immer sie kommen mögen – keinen Hass und keine Zwietracht aufkommen. Offene Herzen, offene Ohren und offene Türen – all das will der Kulturring! Ganz im Sinne von Anton Tschechow: „Es ist wahr, wir haben Bücher, doch diese geben uns nicht dasselbe wie ein lebendiges Gespräch und der geistige Austausch ... so sind Bücher mit Noten zu vergleichen, aber ein Gespräch – mit Gesang.“

Ingo Knechtel