Vom Mythos einer Grenze

Hanno Schult

Das empfehlenswerte historische Buch:
Michael A. Hartenstein: „Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie – ,Westverschiebung’ und ‚Umsiedlung’– Kriegsziel der Alliierten oder Postulat polnischer Politik?“

Staatsgrenzen haben und hatten in ihrer historischen Entwicklung stets einen trennenden und einen verbindenden Charakter. Ihre Entstehungsgeschichten sagen viel darüber aus, welchen Charakter die Grenzen für das bilaterale Verhältnis zweier benachbarter Völker und Nationen in der Vergangenheit hatten und in welchem Verhältnis das trennende und verbindende Element auch in Gegenwart und Zukunft zueinander stehen würden. Wenn die Europäische Union heute als Friedensprojekt beschrieben wird, in der die Grenzen ihre Bedeutung als trennendes Element verlieren, so darf bei der Frage der liberalen und vornehmlich ökonomisch gedachten europäischen Integration nicht vergessen werden, dass die unsichtbaren Grenzen in den Köpfen und die Erinnerungskultur eben oft nicht Schritt halten mit den Waren-, Personen- und Finanztransfers in einem vereinten, grenzenlosen Binnenmarkt Europa.

Die heute vergessene und zunehmend tabuisierte Entstehungsgeschichte der Oder-Neiße-Linie als klassischer Kriegsgrenze und die tragischen Folgen von millionenfachem erzwungenen Bevölkerungstransfer werfen auch nach Jahrzehnten immer noch einen sichtbaren Schatten auf die deutsch-polnischen Beziehungen, die noch weit davon entfernt sind, das oft als beispielhaft beschriebene Niveau der deutsch-französischen Freundschaft erreicht zu haben.

Dem in Österreich arbeitenden und lebenden deutschen Historiker Dr. Michael A. Hartenstein verdanken wir eine interessante populärwissenschaftliche Sacharbeit zur Entstehungsgeschichte der Oder-Neiße-Linie bis zu ihrer endgültigen Anerkennung 1990/91 durch die Bundesrepublik Deutschland, nachdem die staatlichen Garanten der „Unrechtsgrenze“, die DDR, die VR Polen sowie die UdSSR, als Völkerrechtssubjekte in die Geschichte eingegangen waren. Hartenstein beschreibt in bewusst knapp gehaltenen Kapiteln die ideengeschichtliche, politische und völkerrechtliche Dimension der Geschichte einer Grenze, deren Entstehung eine gewaltige Zäsur in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte gewesen ist. Seine zentrale These vom beiderseits der Grenze bis heute propagierten Mythos, dass die Grenze zwangsläufig ein Ergebnis der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz im August 1945 gewesen sei, spiegelt sich dann auch in dem von ihm gewählten Titel seiner Arbeit wider.

Er zeigt, dass die ideengeschichtliche Vision eines nach Westen vergrößerten polnischen Staates schon lange Teil der polnischen politischen Wissenschaften nach der letzten Teilung Polens 1795 gewesen ist. Diese Ideen waren untrennbar mit der „Polnischen Frage“ bis zur Erlangung der Unabhängigkeit 1918 verbunden und waren darüber hinaus Grundlage für die Friedensmacher auf dem Kongress von Wien 1814/15 und den Pariser Vorortkonferenzen von 1919/20. Und auch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beschäftigten sich auf den Konferenzen von Teheran 1943 sowie Jalta und Potsdam 1945 wieder intensiv mit der Lösung der „Polnischen Frage“ als Teil einer neuen politischen Nachkriegsordnung.

Hartenstein beschreibt kurz und prägnant die komplexen grenzpolitischen Vorstellungen der verschiedenen politischen polnischen Strömungen und Lager während der Verhandlungen um die zukünftige Gestaltung Polens im Zweiten Weltkrieg, und wie Stalin und seine polnische „Satellitenregierung“ sich mit ihren Vorstellungen von der Westverschiebung Polens am Ende des Krieges auch durchsetzten. Ein besonderes Verdienst gebührt dem Autor, dass er die Kompensationstheorie (Ost-West-Verschiebung Polens 1945-47) als politischen Mythos benennt und darüber viele monokausale Zusammenhänge zur Rechtfertigung von Unrecht im heutigen Opfer-Täter-Diskurs in Polen und Deutschland kritisch hinterfragt. Es gelingt ihm auch, anhand zahlreicher unbekannter Fakten und Zusammenhänge zu beweisen, dass die deutsch-polnische Versöhnungs- und Vergebungsdiskurse in der Vergangenheit oft von fehlendem Wissen um die komplexe Entstehungsgeschichte der Oder-Neiße-Linie geprägt gewesen sind. Er benennt darüber hinaus die volle Mitverantwortlichkeit der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges für die Folgen der Grenzziehung an Oder und Neiße und das von ihnen bis heute weltweit praktizierte Prinzip: Machtpolitik geht stets vor Recht!

Die Instrumentalisierung der Revisions- und Reparationsfrage für parteipolitische und ideologische Zwecke in der Zeit des Kalten Krieges beleuchtet der Autor genauso treffend, wie er die „Friedens- und Freundschaftsgrenze“ zwischen der DDR und der VR Polen als zweiten Eisernen Vorhang im Herzen Europas als Propagandaphrase entmythologisiert. Besonders vorteilhaft wird die Arbeit von Hartenstein durch 10 Karten im Text abgerundet, aus denen der Leser zahlreiche unbekannte geographische Details zur deutsch-polnischen Grenzgeschichte seit 1916 entnehmen kann. Dem interessierten Leser wird die Lektüre durch zahlreiche Quellenangaben im Text (Fußnoten) erleichtert und darüber hinaus die lesenswerte Arbeit von Dr. M. A. Hartenstein durch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis ergänzt. Dem Buch, das der herrschenden Lesart zum deutsch-polnischen Versöhnungsdiskurs eher nicht entspricht, sei schon auf Grund seiner Faktenvielfalt und stets überzeugenden Sachlichkeit ein großer Leser- und Verbreitungskreis gewünscht.

Auch der Kulturring in Berlin e.V. will 80 Jahre nach dem Überfall auf Polen den Anlass nutzen, um die unbekannte Entstehungsgeschichte unserer heutigen „unsichtbaren Ostgrenze“ zum immer noch unbekannten Nachbarn Polen im Detail näher zu beleuchten. Alle Interessierten sind dazu am 19.August 2019 um 19.00 Uhr ins Studio Bildende Kunst zu einem interessanten Vortrag von Hanno Schult eingeladen. Das Buch von Michael A. Hartenstein ist 2014 in dritter, aktualisierter Auflage im OLZOG-Verlag München erschienen (286 Seiten, gebunden, Hardcover, Preis 24,90 Euro).

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