Café chantant in der Ernststraße

Reinhardt Gutsche

Das französische Chanson scheint in der heutigen Entertainment-Szene hierzulande eher eine marginale Existenz zu fristen und sich an ein überschaubares Publikum francophiler Enthusiasten zu wenden, die in den jüngeren Jahrgängen eh immer seltener anzutreffen sind. Frankreich ist nicht mehr „in“, es sei denn als Schmähobjekt bissiger Kommentare am digitalen Stammtisch über den vermeintlichen sozial-ökonomischen Niedergang unseres immerhin wichtigsten Wirtschaftspartners in EU-Europa. Um so verdienstvoller sind Versuche, diesem Trend ein bisschen entgegenzuwirken, wie neulich der Abend „Chanson-d‘Amour“, als sich der Kulturbund in der Ernststraße, der Treptow-Köpenicker Dépendence des Berliner Kulturrings, kurzerhand in ein „Café chantant“ mit dem Flair von Montmartre verwandelte. Der kleine Veranstaltungsraum konnte die Schar der Chanson-Enthusiasten kaum fassen, die gekommen waren, um der Einladung von Carola K. Brasin auf den Rummelplatz der Liebe zu folgen.

Die Mehrzahl der Zuhörer dürfte sich noch gut an die (Ost)-Berliner Sternstunden des französischen Chansons erinnert haben, als Tausende in den 1960er Jahren im (alten) Berliner Friedrichstadtpalast die damaligen Ikonen des Genres wie Juliette Gréco und Gibert Bécaud feierten oder später die „Poppys“ im Palast der Republik. In der Spät-DDR waren dann die umjubelten Auftritte von Francis Cabrel in dem kurzlebigen Französischen Kultur-Institut Unter den Linden oder Léo Ferré im Berliner Ensemble fast schon in eine geheimtipphafte Insider-Aura getaucht.Das französische Chanson als unverwechselbares Kulturgut westlich des Rheins mit jahrhundertealter Tradition kennt bekanntlich viele Ausprägungen und unterscheidet sich von verwandten Genres wie dem deutschen Schlager oder dem englischsprachigen Popsong vor allem durch die literarische Botschaft des Textes, der „paroles“. Das klassische französische Chanson ist eher ein Gedicht mit unterstützender musikalischer Begleitung in kleiner Formation. Die besten Chansonniers-Autoren, wie etwa der boshaft-bissige, ironische Sprachkünstler Georges Brassens, sind selbst Teil der neueren französischen Poesie-Geschichte geworden oder haben, wie der politisch engagierte Jean Ferrat, Gedichte wie die von Louis Aragon vertont und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

Ihrem künstlerischen Naturell gemäß schöpfte das (deutschsprachige) Repertoire von Carola K. Brasin an diesem Abend aus eher leichtgewichtigeren Traditionsquellen als aus dem philosophieträchtigen Chanson existenzialistischer Provenienz eines Boris Vian oder einer Juliette Gréco. Die Sängerin-Schauspielerin kommt aus dem Musical- und Operettenfach und hat u. a. am Ost-Berliner Metropol-Theater, dem heutigen Admiralspalast, in „Annie Get Your Gun“ (unter Gerd Natschinski), als Sally Bowles in „Cabaret“ und als widerspenstige Katharina in „Kiss Me, Kate“ Musical-Erfolge feiern können. Ihre leicht komödiantisch-lustvollen Chanson-Interpretationen, dabei stets zwischen solch unterschiedlichen Temperamenten wie Gibert Bécaud, Charles Aznavour, Yves Montand, Jacques Brel, Edith Piaf und - hélas! - Mireille Mathieu wandelnd, handeln dann auch von „überall blühenden Rosen“ („L’Important C’est La Rose“ - Gilbert Bécaud) und dem „Leben in Rosa“ („La Vie En Rose“ nach Edith Piaf), sparen aber auch die unvermeidlich leidvollen Liebesserfahrungen nicht aus, wie sie die Jacques-Brel-Klassiker „Bitte geh nicht fort“ („Ne Me Quitte Pas“) und das „Lied von den Alten“ („Les Vieux“) oder „Mein Ideal“ („Et Maintenant“ von Charles Aznavour) zum Gegenstand haben.

Etwas aus diesem eher melancholischen Rahmen fiel das berühmte „Amsterdam“, der Abschlusstitel aus Jacques Brels letztem Live-Konzert im Pariser „Olympia“ 1966. Carola K. Brasin trug diese kraftvolle, lebenspralle Liebeshymne auf die Seemänner und Huren im Amsterdamer Hafen – in der kongenialen Nachdichtung des österreichischen Kabarettisten und Schauspielers Werner Schneyder – mit einer für eine Musical-Sängerin bemerkenswerten Verve und Leidenschaft vor. Dieses Chanson – mit dem unvergleichlichen, dramatischen Schluss-Crescendo – ist nur in der legendären Olympia-Konzertfassung überliefert. Es in deutsch zu covern ist für jeden Interpreten ein Wagnis, an das sich nur wenige Künstler herantrauten wie Hildegard Knef und Michael Heltau. Carola K. Brasin hat dieses Wagnis mit Bravour bewältigt.

Als Zugabe gab es Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“. Nein, die Besucher dieses Chanson-Abends haben ihr Kommen nicht bereut.

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