Pookas Näschen und ein Hochzeitswalzer

Tanja Bradtke

Dienstag, 12. November im Berliner Tschechow- Theater. Es ist 17 Uhr, der Zuschauerraum noch fast leer. Doch hinter der Bühne unruhiges Treiben, Stimmen junger Mädchen, die aufgeregt durcheinander schnattern, nervöses Lachen. Lampenfieber herrscht so kurz vor der Premiere von „Anastasia – Die Geschichte der russischen Zarentochter“ unter den Kindern und Jugendlichen der Theaterwerkstatt des Tschechow-Theaters. Wegen einer Störung bei der S-Bahn werde der Beginn sich verzögern, heißt es. Viele Eltern, Großeltern, Geschwister und Freunde der jungen Schauspieler stecken offenbar irgendwo auf der Strecke fest, auch die Pianistin fehlt noch. Eine kleine, schwarz geschminkte Nase lugt neugierig durch einen Spalt im Vorhang in den Zuschauerraum. Dort stehen einige der Kulissen des Stücks: eine einfache Hütte, ein prächtiges Schloss mit Zwiebeltürmen und ein Kassenschalter – alles aus Pappe versteht sich. – Endlich, mit einem Mal füllt sich der Saal, gleich kann das Stück beginnen.

„Anastasia“ ist nach „Schneewittchen“ 2012 das zweite Projekt, das die Theaterwerkstatt des Tschechow-Theaters unter Leitung von Hannelore Wolter zu den Berliner Märchentagen einstudiert hat. Der Stoff beruht auf den Legenden um das Verschwinden der russischen Zarentochter Anastasia Nikolajewna Romanowa in den Wirren der Oktoberrevolution und ist hier aufbereitet als Märchenspiel von Kindern für Kinder mit einem guten Ende.

Behütet und fröhlich wächst Anastasia als Zarentochter auf und ist der Liebling ihrer Großmutter. Der böse Zauberer Rasputin will beide wie die anderen Mitglieder der Zarenfamilie vernichten. Ihnen gelingt die Flucht aus dem Palast, doch dann verlieren sie einander. Während die Großmutter sich in Paris in Sicherheit bringen kann, wächst Anastasia in einem russischen Waisenhaus auf und hat ihre noble Herkunft vollständig vergessen. Zehn Jahre später macht sie sich als junges Mädchen Anya, gespielt von Julia Doldina, auf den Weg, um ihre Familie zu suchen. Dabei findet sie sehr bald Dimitri, Vladimir und das Hündchen Pooka als Weggefährten. Doch Rasputin trachtet ihr nach wie vor nach dem Leben. Unter großen Abenteuern erreicht die kleine Schaar Paris, wo die Großmutter jedoch gerade beschlossen hat, die endlose Suche nach ihrer Enkelin wegen zu vieler falscher Bewerberinnen aufzugeben.

Weil sie am besten singen konnte, so erzählt Julia Doldina, habe sie die Hauptrolle bekommen. Und sicher auch, weil sie schon Erfahrung mitbrachte von „Schneewittchen“ 2012. In der Rolle ihres Gegenspielers Rasputin kommt Melitta Malzewa düster und bedrohlich daher. Ihr Gesang ist fast ein Rap und ziemlich cool! Um diese beiden gruppiert sich das kleine Ensemble von dreizehn jungen Darstellern, die jüngsten gehen noch in den Kindergarten, die ältesten sind 13 Jahre. Etwa die Hälfte kommt aus russlanddeutschen Familien, aber das hört man ihnen nicht an.

Hin und wieder muss Hannelore Wolter soufflieren, wird doch noch ein Einsatz verpasst, und der Hochzeitswalzer klappt noch nicht perfekt. Aber am Ende steht ein berührend langer, reichlich verdienter Applaus.Nun aufgedreht vor Erleichterung, berichten die Kinder von der missglückten Generalprobe und staunen, als sie hören, dass das als gutes Omen gilt. Klara ist erst vor einem Monat durch eine Freundin zu der Gruppe gestoßen und hat kurzfristig die Rolle der Großmutter übernommen. Am Anfang habe sie dafür jeden Tag gelernt. „So ein langes und schönes Stück zu spielen“, sagt sie, „ist sehr aufregend. Es macht einen selbstbewusster, wenn man weiß, ich kann‘s. Und wenn der Text mal hakt, muss man einfach weitermachen und improvisieren.“ Auch Leonie, eine der ältesten, ist erst seit kurzem dabei. Aufgrund ihrer Erfahrung aus einer Theater-AG in der Schule und einem Puppentheater hat sie ganz schnell mehrere wichtige Nebenrollen übernommen. Jasmin ist sieben Jahre alt und geht in die erste Klasse. Ihr gehörte das vorwitzige, schwarze Näschen hinter dem Vorhang. Als Hündchen Pooka hat sie keinen Text und kann sich nur durch Bellen und pantomimisches Spiel verständigen. Und sie ist sich sicher, sie will nie wieder Lampenfieber haben. Jüngstes Ensemblemitglied ist jedoch Veronika. Die Fünfjährige verzauberte die Zuschauer als kleine Anastasia und als Rasputins Geselle Bartok. Nun, nach dem Stück ist sie plötzlich ganz schüchtern.

Erschöpft, aber glücklich sinkt Hannelore Wolter am Ende auf einen Stuhl. „Dreizehn Kinder unter einen Hut zu bringen, das ist ganz schön hart. Aber es macht Spaß, wenn man das Ergebnis auf der Bühne sieht.“ Seit 1999 hat die Idee, das Schicksal der Zarentochter Anastasia auf eine Bühne zu bringen, die Theaterpädagogin ständig begleitet und nicht mehr losgelassen. Nun im Tschechow-Theater, wo sie ideale Bedingungen vorfindet, konnte sie ihren Traum endlich verwirklichen. Auf der Basis von Don Bluths Zeichentrickfilm „Anastasia“ von 1997 hat sie die Bühnenfassung für Kinder geschrieben, Kostüme entworfen und geprobt, geprobt, geprobt – seit März einmal in der Woche, in den Sommerferien zusätzlich eine Woche lang jeden Tag. Schwierigkeiten bereitete dabei die große Fluktuation in ihrem jungen Ensemble. Nach den Sommerferien waren etliche Kinder weggeblieben. „Aber die, die geblieben sind, haben Großartiges geleistet“, lobt Hannelore Wolter. „Sie hatten einen Mammut-Text zu lernen“. Dabei sind einige ihrer Schützlinge sogar lernbehindert oder besuchen eine Sprachheilschule. Florian zum Beispiel hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. (Die Mutter hat ihr Einverständnis gegeben, das zu schreiben, hat mich fast gedrängt.) Dennoch hat der 13-Jährige die relativ große Rolle des Vladimir toll gelernt, durchgehalten und durchgespielt, auch wenn es anstrengend war.

Durch das Theaterspielen schulen die Kinder vielfältige Fähigkeiten. Zusätzlich zur Arbeit am Stück lernen sie bei Hannelore Wolter alles, was ein richtiger Schauspieler auch braucht. Auf dem Programm stehen folglich auch Sprecherziehung, Atemübungen, Rollen- und Szenenstudium, Pantomime sowie Bewegungstraining und Tanz. Außerdem gilt es, sich vor viele Zuschauer auf eine Bühne zu stellen. Das liegt am Anfang nicht jedem.

Am Sonntag, dem 1. Dezember ist „Anastasia“ noch einmal im Tschechow-Theater zu sehen. Hannelore Wolter macht sich derweil bereits Gedanken über das nächste Stück. Und die Kinder sind sich einig, da wollen sie alle wieder dabei sein.

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