Lange Schatten der Pariser Vorortverträge | Das empfehlenswerte historische Buch: Jörn Leonhardt: „Der überforderte Frieden, Versailles und die Welt 1918-1923“

Hanno Schult

Unter den mittlerweile doch zahlreichen neueren Arbeiten zum welthistorischen Umbruchjahr 1918/19, die in den Buchläden ausliegen, fällt eine Arbeit nicht nur wegen ihres voluminösen Umfanges auf, sondern auch wegen des provokanten Buchtitels: „Der überforderte Frieden“. Und dem historisch interessierten Leser stellt sich sofort die Frage: Wer und was könnte der bekannte Autor und Historiker damit gemeint haben?

Natürlich bezieht sich der Autor damit auf das „Peace-Making“, einen Prozess des Friedensstiftens der Diplomaten und Staatsmänner, die sich im Frühjahr 1919 in Paris trafen, um nach dem bis dahin größten Krieg der Menschheitsgeschichte einen dauerhaften, tragbaren und visionären Frieden zu schaffen. Diese Aufgabe von globaler Dimension musste die Handelnden überfordern, wie Leonhardt schreibt, und erweckt die Neugier beim Leser, sich der Globalgeschichte der fünf Pariser Vorortverträge von 1919/20 aus einer ungewöhnlichen, übernationalen Perspektive zu nähern. So schreibt der Autor, dass der Kampf um den ewigen Frieden eine zeitlose Metapher ist und kein Diktum der Vergangenheit, das gerade in Deutschland immer wieder benutzt wird, um den hiesigen Sonderweg und die Bruchlinien im 20. Jahrhundert in der aktuellen Geschichtspolitik als Zeitalter der Extreme zu begründen. Und auch die Friedensmacher von 1919 standen in der damaligen Gegenwart vor der  Herkulesaufgabe, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, um die Zukunft zu gestalten.

So stehen auch nicht zufällig die drei großen Prinzipien des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson als Grundlage zur Gestaltung einer neuen Friedensordnung 1918-1920 –

  1. das nationale Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen,
  2. das liberale Demokratiemodell als Grundlage des parlamentarischen Verfassungsstaates,
  3. die Schaffung einer Liga der Nationen (Völkerbund) als überstaatliche Organisation zur Verhinderung und Ächtung von Kriegen und als internationale Schiedsstelle bei zwischenstaatlichen Konflikten – im Kontrast zur traditionellen Machtpolitik der anderen Siegermächte des Ersten Weltkrieges und den Erwartungen der Zeitgenossen in einer Zeit des Umbruches mit einer ungewissen Zukunftsperspektive. Denn die damaligen neuen Utopien der Zeit – Weltdemokratie, Weltrevolution und Selbstbestimmung – ließen sich in komplexen historischen Prozessen nur schwer miteinander in Einklang bringen.

Professor Leonhardt zeigt dann auch in den 12 Hauptkapiteln seiner Arbeit, die er wiederum in Unterkapitel teilt, wie fließend die Grenzen zwischen Waffenstillstand, Friedensabschluss und Nationsneubildungsprozess vor dem Hintergrund des Unterganges der großen Imperien wirklich gewesen sind. Dazu kamen revolutionäre Umbrüche in vielen postimperialen Staaten und das Beispiel der gesellschaftspolitischen Utopie der russischen Bolschewiki und seine Wirkungskraft über den nationalen Rahmen hinaus. Dies – neben unkontrollierbaren Nationsbildungsprozessen – schränkte die Handlungsspielräume der Friedensmacher in Paris extrem ein. Dazu kam, wie der Autor zu Recht schreibt, ein neues Gewaltelement in das politische Kalkül der Diplomaten, Staatsmänner und Militärs, nämlich die so genannte öffentliche Meinung von traumatisierten Kriegsgesellschaften und ihre Erwartungshaltung an einen Frieden, der den gebrachten Opfern in jedem Fall gerecht werden sollte. So verknüpft er auch folgerichtig die Kriegszieldebatten der Mächte während des Krieges mit den Visionen von Verständigungs-, Verhandlungs- und Siegfrieden und zeigt, wie das Vertrauen in die Friedensbereitschaft der Mittelmächte durch die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest 1918 auf Seiten der alliierten und assoziierten Mächte erschüttert und die Bereitschaft zum harten Siegfrieden Konsens wurde in den Kriegsgesellschaften der Entente und deren politischen Eliten. Interessant zeigt der Autor die Wirkung des Hungers und der spanischen Grippe in den vom Kriege stark gezeichneten Gesellschaften der Mittelmächte auf und verweist zu Recht auf die daraus resultierende revolutionäre Dynamik in Deutschland und Österreich-Ungarn.
Jörn Leonhardt beschreibt meisterhaft den Kollaps der großen multi-ethnischen Imperien Russlands, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches und die schnelle Erosion von in Hunderten von Jahren gewachsenen Gesellschaftsstrukturen, die auch die Zeitgenossen damals in mental-psychologischer Hinsicht oft überforderten, was aber darüber auch in gewisser Hinsicht die Zeit für Visionäre gewesen ist. Besonders interessant und informativ für den Leser sind die Passagen, in denen der Autor viele bekannte zeitgenössische Persönlichkeiten aus den Bereichen der Kunst, Kultur, Wissenschaft, Politik und Medien aus ihren Tagebüchern, Briefen und Berichten zu Wort kommen lässt und so dem Leser einen multiperspektivischen Blick auf die Ereignisse ermöglicht.

Auch das Ende vieler multiethnischer europäischer Staaten, wie der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und der UdSSR, geht ursächlich auf Nationalitätenkonflikte zurück, die in der Zeit der Staatsbildungsprozesse am Ende des Ersten Weltkrieges vor dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechtes ihren Ausgang nahmen. Das gilt auch für die komplexen Konflikte im Nahen Osten nach dem Untergang des Osmanischen Reiches 1923, dessen politisches Erbe in der Weltpolitik bis zum heutigen Tage nachwirkt. Es gilt aber auch für den europäischen Integrations- und Einigungsprozess, der durch die langen Schatten des Europas der Sieger und Besiegten von 1919/20 bis heute behindert wird. Der alte und neue ungarische Trianon-Komplex steht da beispielhaft für viele lebendige Schatten der Pariser Vorortverträge bis zum heutigen Tage.

Ergänzt wird die fundamentale Arbeit von J. Leonhardt durch einen umfangreichen Anhang und Quellverknüpfungen im Text, einen Bildnachweis, eine Bibliographie sowie ein umfangreiches Personen-, Sach- und Ortsregister. Fünfzehn Karten im Text erleichtern dem Leser die historische geopolitische Orientierung. Auch für den Kulturring in Berlin e.V. ist der hundertste Jahrestag des deutschen Traumas vom 28.06.1919 Anlass, mit einer Vortragsveranstaltung am 17. Juni 2019 im Studio Bildende Kunst an unbekannte Aspekte des „Friedens der Superlative“ und deren Auswirkungen für Berlin-Brandenburg zu erinnern. Alle historisch Interessierten sind dazu herzlich eingeladen.

Das Buch zum 100. Gedenkjahr ist erschienen im C.H. Beck Verlag München, 1. Auflage 2018, gebunden, 1531 Seiten mit 88 zeitgenössischen Abbildungen zum Preis von 39,80 €.

Archiv