Entsorgen geht nicht

Dr. Gerhard Schewe

Früher wurde nur weggeworfen, was wirklich nicht mehr zu gebrauchen war. Mit der so genannten Wegwerfgesellschaft änderte sich das allmählich. Wegwerfen erwies sich als steigerungsfähig. Erst wanderten die abgetragenen Schuhe in den Müll, die Uhr, deren Reparatur sich nicht mehr lohnen würde. Dann folgten die Dinge, die der technische Fortschritt aussortierte. Schließlich trennte man sich von Produkten, die durchaus noch gebrauchsfähig waren, von ihren Besitzern aber als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Das war die von Industrie, Handel und Werbung genau kalkulierte Folge dessen, was Kritiker einer derartigen Verschwendung später Konsumterror nannten. Viele Menschen handelten wie unter einem Zwang. Eine neue Steigerungsstufe war erreicht, und es gab dafür auch ein neues Wort: entsorgen. Dieses Wort war doppelsinnig, weil es ja auch „sich einer Sorge entledigen“ bedeuten konnte, etwa der Sorge, dass der Nachbar über das nicht mehr ganz neue Auto, der Kollege über das „moralisch verschlissene“ Handy geringschätzig die Nase rümpfen würde. Also weg mit dem diskriminierenden alten Plunder! Und weg sind die Sorgen. Ganz einfach!

Schwerer zu erklären und deshalb um so beunruhigender ist die Tatsache, dass nun aber auch immer mehr immaterielle Dinge – traditionelle Werte, Tugenden, Bildungsinhalte – als nicht mehr zeitgemäß hingestellt wurden und somit Gefahr liefen, ebenfalls als alter Plunder entsorgt zu werden: Ehrlichkeit? Ist was für die Dummen und schadet dem Geschäft, also weg damit! Rücksichtnahme? Was kümmern mich die anderen? Kultur? Brauche ich nicht. Geschichte? Unnötiger Ballast! Schließlich leben wir heute, also weg damit!

Tatsächlich kommen ernsthafte historische Analysen und Schlussfolgerungen im offiziellen gesellschaftlichen Diskurs unserer Zeit kaum noch vor. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer spricht in seinem Essay In den Ruinen des Jahrhunderts (1997) dann auch ganz offen von Geschichtsfeindlichkeit und veranschaulicht dieses Phänomen an dem repräsentativsten Beispiel, das es hierfür nur geben kann; dem veränderten Verhältnis zur Aufklärung. Einst geistig-kulturelle Legitimation des zur Macht strebenden Bürgertums, werden ihre damaligen Ideale heute für den Bestand eben dieser Macht als Bedrohung angesehen: Volkssouveränität, die Utopie vom ewigen Frieden, die kritische Vernunft des mündigen Bürgers, seine wissensgestützte Urteilsfähigkeit..... Na schön, lag damals vielleicht im Trend. Aber wer will heute noch was von Kant oder Leibniz hören? Also weg damit!

Natürlich werden für derlei Entsorgungen meistens irgendwelche Gründe vorgeschoben; manchmal erfolgen sie aber auch gleichsam durch die Hintertür. Beispiel Faschismus. Keine Frage, dass er auf den Abfallhaufen der Geschichte gehört. Aber wenn damit zugleich auch das notwendige Wissen um seine Ursachen und Konsequenzen mit entsorgt werden soll? Wenn versucht wird, mit der Entsorgung des realen Sozialismus auch die Perspektiven möglicher anderer Gesellschaftsformen aus dem historischen Bewusstsein zu streichen?..... Die Vorstellung, welche verheerenden Auswirkungen solche Konzepte auf das Denken und Handeln vor allem jüngerer Menschen haben können, ist wie ein Albtraum.

Und was hat das alles mit dem Kulturring zu tun? Er steht in einer Reihe mit vielen anderen, die sich dieser Tendenz bewusst widersetzen. Ob nun unser Rosa-Winkel-Projekt, die Friedenslesungen zum Gedenken an den 1. September 1939, die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Aspekten der DDR-Geschichte.....Wenn der Verein 2014 sein 20jähriges Bestehen feiert, wird die Erinnerungskultur in seiner Leistungsbilanz wieder einen besonderen Platz einnehmen. Dafür wollen wir Sorge tragen!

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