„Grüß Gott statt Moin, Moin“,

Ingo Knechtel

prangte den Besuchern des 34. Evangelischen Kirchentags in Hamburg von Plakatwänden entgegen. Das war angemessen, überfluteten die Straßen der zweitgrößten deutschen Stadt (1,8 Mio Einwohner) immerhin an die 400.000 Teilnehmer und Besucher. Da war selbst die lautstarke autonome Szene der Hansestadt verblüfft, die mit Aufklebern deutlich machte, was sie von dem Spektakel hielt: „Kein Gott! Kein Staat! Kein Kirchentag!“, war da zu lesen. Und am revolutionären 1. Mai, an dem es tagsüber noch Wasserwerfer im Einsatz und martialische Polizisten zu sehen gab, hatte sich zum Auftakt des Kirchentreffens die Szene beruhigt – in der Hafenstraße hing gut sichtbar ein provozierend gemeintes Plakat: „Wie gut wäre doch die Welt, hätte Maria abgetrieben.“ Allerdings war es dennoch kein gewöhnlicher Beginn des Kirchentags. Hamburg war schon dreimal Gastgeber des Fests – 1953, 1981 und 1995. Man konnte eine gewisse Routine erwarten. Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehr hielt eine Predigt zum zentralen Eröffnungsgottesdienst in der HafenCity. Was nur rund 500 Meter vom Ort des Geschehens entfernt passieren sollte, konnte sie nicht wissen, als sie sagte: „Unsere Erde ist aus dem Gleichgewicht. … So viel Bomben. So viel Gezocke. So viel Gewissenlosigkeit. So viel – was kein Mensch braucht.“ In Sichtweite spielte sich derweil ein dramatischer Einsatz der Hamburger Feuerwehr ab, die mit über 200 Einsatzkräften das Letzte gab, um den in Brand geratenen Frachter „Atlantic Cartier“ zu löschen. Dieser hatte rund 20 Tonnen Uran-Hexafluorid und anderes radioaktives, spaltbares Material an Bord. Die Substanz wird zur Herstellung von atomaren Brennstäben verwendet. Weiter an Bord befanden sich 180 Tonnen leicht entzündliches Ethanol und mehrere Tonnen Explosivstoffe, darunter Teile für Munition. „Soviel Du brauchst“, das Motto des Kirchentags, bleibt dem Dabeigewesenen, dem im Unklaren Gelassenen, einem der Zigtausenden fröhlich Gestimmten, im Nachhinein geradezu im Halse stecken. Und ein Plakat, das am Hafen zu lesen war, drängt sich auf. Darauf stand – neben den Namen zahlreicher an Rüstungsdeals beteiligter Unternehmen: „Krieg beginnt hier – als Rüstungsgeschäft in Hamburg“.

Das nun soll der Kirchentag sein, wenden Sie zu Recht ein? Oder doch eher „Glaube, Liebe, Fischbrötchen“, wie es in der „Welt“ zu lesen war. Das alles war Hamburg ganz sicher nicht. Auch wenn die Fischbrötchen schmeckten, und auch wenn sich Politiker aller Couleur darin gefielen, mit ihren potenziellen Wählern auf Kuschelkurs zu gehen. Ja, es gab den Dialog. Und ja, es wurde über Inhalte, sprich die Probleme dieses Landes und der Welt, geredet. Wer genau hinhörte – und das taten schon sehr viele in den überfüllten Messehallen – erkannte allein an der Art des Sprechens, woher der oder die Prominente kam. Da hoben sich die engagierten Kirchengrößen wie Altbischof Wolfgang Huber („Wir müssen wieder Maß und Mitte finden.“ „Soviel Du brauchst“, heißt auch, „wir brauchen eine Ökonomie des Genug.“) und die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann („Ich wünsche mir, dass Christinnen und Christen … Nervensägen sind. Wenn es um Recht geht, um Menschenwürde, um Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.") deutlich und nachhaltig vom „Politsprech“ der Parteienvertreter ab. Händeschütteln und ganz nah am Präsidenten oder Kanzlerkandidaten oder … dran gewesen zu sein, war zwar ein beliebtes „Mitbringsel“ für das Geschichtenerzählen zu Hause, rückt aber kurz danach auch wieder ganz schnell für Wichtigeres in den Hintergrund.Wie aber findet jemand das Wichtigere? Es gab ein Programm mit weit über 2800 Veranstaltungen. Soviel Du schaffst! Die vielfältigsten Interessen und Wünsche der Teilnehmer fanden sich darin wieder. Sie konnten aktiv werden, ihre Meinung war gefragt. Auch am Stand des Kulturrings gab es dazu viele Anregungen. Bei der künstlerischen Arbeit, z.B. beim Praktizieren der japanischen Faltkunst Origami, mit viel Können und Hingabe vermittelt durch Tatjana Kan, oder bei einfachen Buchbindearbeiten, die interessierten Gästen durch Susanne Groth nahe gebracht wurden. Darüber war es schnell möglich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Großformatige Fotos aus der Kulturring-Arbeit, Bücher, Broschüren sowie Teile einer Ausstellung zur Homosexuellen-Verfolgung lösten als Beispiele der vielfältigen Kulturarbeit immer wieder Nachfragen und Kontaktwünsche aus. Sicher war der Kulturring, der sich wie viele andere, sozial engagierte Vereine als Zeugnis des bürgerschaftlichen Engagements seiner Mitstreiter am Markt der Möglichkeiten beteiligte, bei weitem nicht das Wichtigste für die Besucher. Aber aus dem, was die Gäste an Meinungen am Kulturring-Wunschbaum kund taten, lohnt es sich zu zitieren:

„Ich wünsche mir, dass es keinen Krieg mehr gibt, und dass die Atomkraftwerke abgeschaltet werden und dabei keine Unfälle passieren.“

„ Mehr Mut zu Experimenten!“

„Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen für Kunst, Kultur & Umweltschutz engagieren und interessieren!“

„Ich wünsche mir: Bekämpfung des weltweiten Hungers. Dass die staatlichen Militärausgaben für die Umwelt eingesetzt werden.“

„Ich wünsche mir gerechten Lohn für alle arbeitenden Menschen bei uns und in der 3. Welt“.

Bei Vielen werden die großen Themen mit den eigenen Wünschen verbunden, wie kann es auch anders sein?

Was bleibt von den fünf Tagen? Tausend Erinnerungen bleiben, an Diskussionen, an Konzerte, an neue Freunde. Das Schöne am Kirchentag ist auch die Spontaneität: An der Ecke spielt die Rockband aus Dresden, am völlig falschen Platz, weil sie den ihr zugewiesenen nicht fand. Und schnell bildet sich auch hier eine Menschentraube. An einer anderen Ecke probt ein Chor öffentlich für seinen bevorstehenden Auftritt. Die Hamburger sind herzliche Gastgeber, viele stellen unentgeltlich Quartiere zu Verfügung. Die Vororte der Großstadt sind einbezogen. Auch dort findet sehr viel statt. Große Namen sind unter der Künstlerschar, ob nun Wolf Biermann im Rahmen des Kirchentagsprogramms für jedermann frei oder Hermann van Veen mit zwei Konzerten vor einem begeisterten Publikum in der Laieszhalle, außerhalb des Kirchentag-Programms. Unser Highlight war ein Musical, durchaus passend für Hamburg. Aufgeführt wurde „Der verlorene Sohn – Alex S. (ich bin wieder hier)“ mit Musik von Marius Müller-Westernhagen in der Jugendmusikschule in Rotherbaum. Die 370 Plätze dort waren schnell besetzt. Der Brandschutz gebot, viele Interessenten abzuweisen. Das Projekt der Heilig-Geist-Kirchengemeinde aus Werder an der Havel in Zusammenarbeit mit dem Job e.V. Jugendhaus Club 01 ist mitten aus dem Leben gegriffen: Alex bricht von zu Hause aus, will seinen eigenen Weg finden. Er fällt auf Versprechungen rein, denkt, er muss der neue Super-Star werden, scheitert jedoch und landet ganz unten. Er erkennt seine wahren Freunde und findet schließlich auch zu seiner Familie zurück. Die Rahmenhandlung wurde gemeinsam im Team entworfen, Szenen wurden improvisiert. Gebraucht für das Projekt wurden alle, die Lust am Mitmachen hatten. Junge Leute, die noch nie auf der Bühne standen, spielten, sangen und tanzten mit Schauspielern. Es beteiligten sich Menschen, die sich um Kinder kümmerten, Handwerker, die Kulissen bauten, Techniker für Licht und Ton: alles in allem über 70 Leute. Pfarrer Georg Thimme versteht dies als seine Art der Gemeindearbeit. Für ihn war und ist es wichtig, „dass er oder sie mit ihren ganz speziellen Gaben gebraucht wird, dass jeder und jede einzelne wichtig ist“. „Mit Spaß an der Sache, mit Phantasie und Engagement und gemeinsam in einer Gruppe lässt sich vieles verwirklichen, was auf den ersten Blick unmöglich scheint. Damit wächst das Selbstbewusstsein und dann auch der Mut, auch in anderen Situationen Initiative zu ergreifen.“ Zum Glück für dieses Land haben wir viele Menschen wie Georg Thimme.

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