„Zerstörte Vielfalt“ –

Ingo Knechtel

nennt der Berliner Senat das Projekt eines „Themenjahres“, mit dem an den 80. Jahrestag der Machtübergabe durch den damaligen Reichpräsidenten Hindenburg an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 sowie den 75. Jahrestag des Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung am 9. November 1938 erinnert werden soll. Wie Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit sagte, will sich die Stadt damit der fortdauernden „Verantwortung für die Geschichte stellen und sich aktiv mit ihr auseinandersetzen“. Dazu wird es die verschiedensten Ausstellungs- und Erinnerungsprojekte im Verlauf des Jahres geben, darunter als bedeutendstes die Schau im Deutschen Historischen Museum. Wie zahlreiche andere Vereine beteiligt sich auch der Kulturring in Berlin e.V. an diesem Themenjahr. Der Verein ist wiederum an der Erweiterung und kontinuierlichen Präsentation der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg beteiligt. Aber auch die tägliche Arbeit seiner Gruppen wird von Recherchen zu diesem Thema bestimmt. So haben sich die Geschichtsfreunde Karlshorst mit den Umständen und Folgen der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in einem Berliner Stadtteil beschäftigt. Die folgende Zusammenstellung ist sicher nicht erschöpfend, gibt aber dennoch ein interessantes Bild über diese Zeit, in der nicht nur die Vielfalt im Leben zerstört wurde, sondern die schließlich im Verlust des Lebens für zu viele Menschen mündete.

 

Michael Laschke:

Berlin-Karlshorst: 1933 bis 1945

Die Ursachen und Folgen des 30. Januar 1933 sind vielfach untersucht. Dennoch bleibt manchmal offen, wie sich die nationalsozialistische Ideologie in einer kleinteiligen Region ausbreitete und wie sie das Verhalten vieler Menschen in ihrem Sinne veränderte.

Es ist mühsam, den Veränderungen im Verhalten nachzuspüren und daraus ein größeres Bild zu zeichnen. Ereignisse zusammenzutragen, deren Ursachen und Folgen zu analysieren, ist das Eine; Zeitzeugen zu befragen, das Andere. Was diese erzählen, muss geprüft werden, selbst wenn die Diktion erschreckend an die Jahre nach 1933 erinnert. Manche erinnern sich nicht – sei es aus Befangenheit, aus Scham, aus dem Wunsch heraus, über diese Zeit nicht mehr sprechen zu wollen.

Noch steht die regional orientierte Forschung zu diesen Fragen in Karlshorst fast am Anfang. Die hier genannten wenigen und unkommentierten Daten sollen das zeigen. Ausdrücklich ist darauf zu verweisen, dass das Verhalten von Menschen in Karlshorst vor und nach dem 30. Januar auch durch Verweigerung und Widerstand gegenüber dem NS-Regime gekennzeichnet war. Darüber wissen wir nicht nur mehr, sondern halten auch die Erinnerung daran in vielfältigen Formen aufrecht.

Angesichts der 80. Wiederkehr des 30. Januar 1933 sollen jedoch die hier bruchstückhaft genannten Ereignisse anregen, sich einem bisher vernachlässigten Aspekt in der Regionalgeschichte stärker zu öffnen.

19. November 1929: Der „Karlshorster Anzeiger“ wertet die Wahlbeteiligung aus: „Als stärk-ster nationaler Ort im Bezirk steht Karlshorst da. Es ist die Hochburg des nationalen Willens im Berliner Osten. Da nützen keine Fackelumzüge der SPD mit gepumpten Mannschaften und doppelter Kapelle, da können Lastautos mit verhetzten Menschen durch die Straßen rasen! Die Fenster und Türen bleiben zu, und stolz erfüllt jeder Bürger seine Wahlpflicht zum Besten seiner Stadt, seines Vaterlandes. Macht es ebenso, ihr anderen Mitbürger aus Lichtenberg, und der rote Sumpf ist ausgerottet."

Anfang 1930: der Stützpunkt Karlshorst in der Sektion Lichtenberg der NSDAP wird gegründet. Im April wird Karlshorst eine eigenständige Sektion der NSDAP in Berlin.

August 1930: Der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels spricht vor mehr als 600 Menschen im Deutschen Haus in Karlshorst, damals ‚erstes und größtes Etablissement am Platze’, (1948/49 abgerissen). Heute steht dort das Theater Karlshorst.

September 1930: Reichstagswahl – in Karlshorst stimmen 2.851 Menschen für die NSDAP. für die SPD ca. 3.051 Einwohner.

April 1932: Landtagswahl – In Karlshorst stimmen 5.584 Menschen für die NSDAP, für die SPD ca. 3.000 Einwohner, bei insgesamt 17.770 Wahlberechtigten.

Juli 1932: Reichstagswahl – In Karlshorst stimmen 5.489 Menschen für die NSDAP, für die SPD 3.222 Einwohner, für die KPD 2.080 Einwohner.

November 1932: Reichstagswahl – In Karlshorst stimmen 5.013 Menschen für die NSDAP, für die Deutsch-Nationale Partei 1.024, für die SPD 2.980 und für die KPD 2.519 Einwohner.

30. Januar 1933: Reichspräsident von Hindenburg übergibt die Reichskanzlerschaft an Adolf Hitler.

Frühjahr 1933: Kantschule Karlshorst: Der Deutschlehrer Gottfried Schwarz erklärt seinen Schülern: „Ihr alle wißt, mit unserem Führer Adolf Hitler ist eine neue Zeit für uns Deutsche angebrochen. Ich will als erster in dieser Schule ein Zeichen setzen. Wir werden von jetzt an zu Wochenbeginn das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied singen. Heute werden wir das proben. David als Jude braucht das natürlich nicht. Deshalb soll er sich in die linke Ecke stellen, bevor wir die Hymnen anstimmen.“

3. April 1933: Der „Karlshorster Anzeiger“ fordert die Absetzung des langjährigen Karlshorster Arztes Dr. Mode als Reichsbahnarzt. Die Abberufung erfolgte zum 30. Juni 1933. Dr. Mode ist seitdem Anfeindungen in seiner Karlshorster Praxis ausgesetzt. Am 28. Februar 1937 scheidet Dr. Alfred Mode durch Suizid aus dem Leben.

7. Oktober 1933: Mitteilung auf der Monatsversammlung des Karlshorster Kriegervereins „Generalfeldmarschall Graf von Moltke": Nichtarier dürfen nicht mehr Mitglieder des Kriegervereins sein und (möchten) sofort ihren Austritt erklären.

8. Juni 1943: Kleingartenanlage Kiefernheide – Frau Margarete D. schreibt an die Zigeunerdienststelle des Berliner Polizeipräsidiums: „Ich bin Blockwart der NSV (‚Nationalsozialistische Volkswohlfahrt’ – d.A.) und habe in meinem Block Zigeunerfamilien mit acht und vier Kindern zu wohnen. Es handelt sich um die Familien Krause und Freiwald, Berlin-Karlshorst, Kolonie Wiesengrund. …. Ich bitte, um für alle Volksgenossen, welche in der Kolonie wohnen, und sich bemühen, anständige Menschen aus Kindern zu machen, diesem Zustand ein Ende zu bereiten, indem die Zigeuner verschwinden. Verwarnungen wären zwecklos. Heil Hitler“.

In einer späteren Befragung „erklärten dreißig Karlshorster Laubenbesitzer, Nachbarn der Sinti, daß sie keine Klagen gegen die Zigeunerfamilien vorzubringen hätten“

23. Oktober 1943: Die Stadtgruppe Berlin-Osten der Kleingärtner fordert von der Kriminalpolizei: „Wir sprechen hier die dringende Bitte aus, dafür Sorge tragen zu wollen, daß die Zigeuner, die noch auf Kleingartenparzellen hausen, endlich einem Sammellager überwiesen werden. Abgesehen davon, daß hierdurch die Kleingärtner von unliebsamen Mitmenschen befreit werden, würden auch Kleingartenparzellen frei werden.“

Reimar Gilsenbach, der diese Vorgänge im Juli 1989 öffentlich machte, bemerkte dazu:

„Als dieser Brief geschrieben wurde, war die Masse der Berliner Sinti längst nach Auschwitz deportiert. Von dorther, wohin die „Zigeuner“ nach dem Begehren der Kleingärtner abtransportiert werden sollten, gab es keine Rückkehr. Hitler raubte Lebensraum im Osten, den Mächtigen des Faschismus ging es um handfeste wirtschaftliche Ziele, ein Großdeutschland bis zum Ural. Die Kleingärtner begnügten sich mit Nachbars Garten, aber sie brachten ihr Ansinnen in der gleichen Sprache vor, der Sprache des gewöhnlichen, des alltäglichen Faschismus. Mochten die ‚Zigeuner‘ in Rauch aufgehen, wenn nur ihre Parzellen frei würden, war alles in Ordnung.“

2. Mai 1945: Teile von Karlshorst werden durch die Rote Armee beschlagnahmt. Die betroffenen Bewohner müssen ihre Häuser und Wohnungen verlassen.

1990: Einige Selbsthilfegruppen und Gesprächskreise in Karlshorst bedauern den Verlust des Eigentums im Mai 1945. Die Vorgeschichte wird ausgespart.

2003: In Karlshorst wird die Initiative Stolpersteine aufgegriffen. Zwischen 2003 und 2010 werden 57 Stolpersteine verlegt. Sie halten im Rahmen des „Projektes für Europa“ des Künstlers Gunter Demming „die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig“. Im heutigen Karlshorst beteiligen sich viele Gruppen und Einrichtungen an diesem Projekt: die Initiative Stolpersteine Karlshorst, das Hans-und-Hilde-Coppi-Gymnasium, die Richard-Wagner-Grundschule, die Evangelische Kirchengemeinde zur Frohen Botschaft sowie ungenannte Bürgerinnen und Bürger, die für Stolpersteine spenden und sich an der Pflege beteiligen.

Quellen:

- Initiative Stolpersteine Karlshorst.

- Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg, 1998.

- Reimar Gilsenbach in „Magazin“ Heft 7/1989

- Horst Brie, Davids Odyssee, Eine deutsche Kindheit – Eine jüdische Jugend, 1997, Seite 28 - Broschüre, 5 Jahre NSADP – 40 Jahre Ortsteil Karlshorst. 1935.

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