Willkommen Grashüpfer und Gavroche

Dr. Reinhardt Gutsche

Alljährlich im trüben November lädt der Kulturring in die Räume des Treptower Kulturbundes zur Mitgliederversammlung. Spektakuläres gab es diesmal nicht zu verhandeln, was man ja angesichts der üblichen Hiobsbotschaften eigentlich eine gute Nachricht nennen könnte. Vermeldenswert, neben Aktivitätsberichten, Satzungsänderung, Spendenaufruf und Ehrung verdienstvoller Mitarbeiter, ist aber allemal die Aufnahme zweier neuer Kollektivmitglieder. Das Figurentheater „Grashüpfer“ und das „Freie Theaterwerk Gavroche“ haben sich entschlossen, künftig unter das Dach des Netzwerkes „Kulturring in Berlin“ zu schlüpfen in der Erwartung, damit künftig ihre Arbeit noch effizienter gestalten zu können.

Vor allem die „Grashüpfer“ sind seit langem mit dem Kulturring in Gestalt seines Projektbereiches Süd, dem Kulturbund in Treptow, in bewährter, fruchtbarer Kooperation verbunden. Wer durch den Treptower Park spaziert, eine der schönsten Berliner Parklandschaften, stößt in der Nähe des Ausflughafens auf ein kleines unscheinbares Gebäude. Seit den 1990er Jahren beherbergt der frühere Transitshop das Berliner Figurentheater „Grashüpfer“ und hat sich seitdem zu einem kleinen Schmuckstück in der Treptow-Köpenicker Kulturlandschaft entwickelt. Unter der passionierten (ehrenamtlichen) Leitung von Sigrid Schubert entführte es seitdem Zehntausende Kinder in die Zauberwelt des Puppenspiels. Es ist eine von kaum einem Dutzend Spielstätten dieser Art in Berlin, die bisher überlebt haben.

Begonnen hat die Geschichte allerdings schon viel früher, als sich 1984 in einem Hinterhaus in der Holziger Straße in Friedrichshain eine Gruppe von Amateurpuppenspielern zusammenfand, um mit viel Einfallsreichtum und Engagement Stücke für Vorschulkinder einzustudieren. Der Erfolg der kleinen Truppe kam schnell: Teilnahme am UNIMA-Kongress in Dresden, der „Olympiade” der Puppenspieler, und am Festival in Chrudin bei Prag, Goldmedaille bei den Arbeiterfestspielen in Gera usw. Aber mit der „Wende” veränderten sich auch die Förderbedingungen, und 1994 kam das vorläufige Aus. Durch den wendebedingten Geburtenknick wurden die Besucher einfach weniger, und die kleine Spielstätte in Friedrichshain musste aufgegeben werden. Für den Neuanfang bot das damaligen Bezirksamt Treptow den Pavillon im Treptower Park zur Nutzung an. Überwiegend aus eigener Kraft entstand ein kleiner Theatersaal mit 60 Plätzen. Die Wände sind mit allerlei bunten Fabelwesen phantasievoll geschmückt, zumeist mit selbst hergestellten Puppen. Seit diesem Neuanfang können die „Grashüpfer”, in wechselnder Zusammensetzung, auf eine stolze Bilanz verweisen: Jährlich lassen sich nahezu 10.000 kleine begeisterte Zuschauer in etwa 300 Vorstellungen und 25 Stücken, dargeboten auch jeweils von fast 20 Gast-Ensembles und Solo-Künstlern, in die phantastische Zauberwelt der Märchen und Wunder entführen. Ob traditionelles Handpuppenspiel in der Guckkastenbühne, freie moderne Animation von Objekten, kunstvolles Marionetten-, Schatten- oder Stabpuppentheater oder offenes Spiel- und Mitspiel-Puppen-Theater, alle künstlerischen Formen des Genres, aber auch angrenzende Künste wie Clownerie, Erzähltheater und Musik, werden gepflegt.Handelt es sich bei den „Grashüpfern“ um eine eher noch traditionelle Spielstätte im „Guckkastenformat“, verfolgt das „Freie Theaterwerk Gavroche“ eine andere Philosophie. Es versteht sich als „eine Arbeits- und Aktionsgemeinschaft für Lebenskultur“ mit dem Theater(betrieb) als kulturellem Medium. Die Akteure verweisen dabei auf die große Tradition des deutschsprachigen Theaters als sozio-kulturelles Verständigungsmittel und das Wesen der Theaterkunst als „einzige Kunst, die mühelos alle anderen Künste sowie Sport, Bildung, Handwerk, Medien und die Aspekte der allgemeinen menschlichen Lebenskultur einschließt“. Im Mittelpunkt steht das Kreative, weniger das Präsentieren. Mit ihrem ganzheitlichen Theater- und Kulturbegriff wenden sich die Akteure des Vereins vorrangig an Kinder und junge Leute, aber auch an jene Erwachsene, die aus Gründen prekärer Einkommensverhältnisse davon bedroht sind, von der Teilhabe am kulturellen Leben ausgeschlossen zu werden. In diesem permanenten Atelier mit seinen wechselnden Projekt-Teams hat alles Platz: Sprache, Literatur, Musik, Tanz, Theater, Handwerk, Malerei, Kunst- und Kulturgeschichte, Spiel, Organisation, Denken, Erfinden, Courage… Hier wird Theater verstanden als Lebensschule und Welterfahrung. Dieses Konzept ist nicht zuletzt ein Alternativeangebot zu einer schon in der Kindheit von elektronischen Medien dominierten konsumtiv-passiven Kulturerfahrung.

„Gavroche“, die legendäre Figur des Pariser Straßenjungen aus Victor Hugos „Die Elenden“, ist nicht zufällig der programmatische Namensgeber des Projekts. Er stirbt auf einer Barrikade während des Juniaufstandes der Pariser Arbeiter 1832 gegen das Bürgerkönigtum von Louis Philipp im Kugelhagel der Regierungstruppen. Mit ihrem Wirken wollen die Akteure des Vereins an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft mithelfen, in der auch die Gavroches von heute einen menschenwürdigen Platz finden können.

Mit diesen beiden neuen Kollektivmitgliedern ist der Berliner Kulturring um zwei interessante und engagierte Angebote reicher. Herzlich willkommen!

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