Märchentage: „... bei den Zwergen hinter den Ahrensfelder Bergen“

Torsten Preußing

Es sei dahingestellt, ob Berlin noch Märchentage benötigt, da die hiesige Politik reihenweise ganze Märchenquartale belegt. Ob – um nur diese Beispiele zu nennen – in der „Lehrwerkstatt des deutschen Flughafenbaus“ oder in den einzelnen Aktensammel-, aufarbeitungs- und -vernichtungsstellen. Die dort aufgetischten Ammenmärchen halten indes nicht die Spur eines Vergleiches mit den Sagen, Geschichten und Fabeln stand, die seit ihrem erstmaligen Erscheinen vor 200 Jahren als Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm ganzen Genrationen von Heranwachsenden den Glauben an das Gute, das trotz aller Anfechtungen über alles Böse triumphiert, mit auf den Weg ins Leben zu geben versuchten. Dass aber aus dem Glauben Gewissheit werde, dafür gibt es noch heute keine Gewähr. Die Berliner Märchentage (zum 23. Mal vom 8. – 25.11.2012) sind deshalb auch das Elixier dafür, dass die Hoffnung darauf nicht stirbt.

Das Berliner Tschechow-Theater (BTT), im nördlichen Vorland der Ahrensfelder Berge (117,5 m) gelegen, inspiriert mit diesem „Zaubertrank“ seit mehr als zehn Jahren seine Mitarbeiter, Künstler und Besucher. Folglich trotzte das gute, kleine und feine Theater wie das tapfere Schneiderlein allen Widrigkeiten. Nicht zuletzt der Prinzipalin Alena Gawron kann man in diesem Sinne bescheinigen, als Elfe und gute Fee, Frau Holle und Goldmarie in Personalunion zu wirken. Speziell, wenn es um märchenhafte Perspektiven sowie den Glauben und die Hoffnung der Jüngsten im angestammten Stadtteil Marzahn NordWest geht, sprüht sie vor Ideen. Jüngstes Beispiel: die Märchentage in diesem Jahr. Auch hier stand der „Werkstattgedanke“ Pate. Bereits Ende August wurde sie eingerichtet, die Theaterwerkstatt, das Stück benannt und die Leute, die es aufführen sollten, ins Auge gefasst: Das waren Kinder aus dem Wohngebiet, von Spielplätzen und Straßenecken, die erkennen ließen, Lust auf Theater und Märchen zu haben. Eine Schauspielerin und eine Theaterpädagogin übernahmen die praktische Arbeit, sie suchten und fanden im Umfeld der Tschechow-Bühne letztlich vierzehn (!) Kinderkomödianten. Und mit ihnen probten sie „Schneewittchen“ bis in den November hinein.Die Theaterpremiere

Eine alte Anekdote – auf diese Geschichte bezogen – könnte lauten: „Meine Damen und Herren, liebe Kinder, wir bitten die Verzögerung des Vorstellungsbeginns zu entschuldigen. Schneewittchen ist noch nicht rasiert.“ Auch wenn A. Gawron eine Verzögerung wirklich ankündigen musste, der Rest gehört ins Reich der Märchen, denn von den Schauspielern musste sich niemand rasieren. Allesamt waren weiblichen Geschlechts, was immer das bedeuten mag, und das Lampenfieber lag knisternd über der Szene, als Juliane Witt nach bestandenem Kampf mit dem Ahrensfelder Verkehrsknoten etwas verspätet das Schneewittchen-Haus erreichte. Als Bezirksstadträtin für Jugend und Familie, Weiterbildung und Kultur wollte sie den Kindern ein bisschen Mut machen, sich selber aber auch in märchenhafte Stimmung versetzen. Sogar die Kinder im Publikum halfen ihr dabei. Dann ging es los: Mit „Es war einmal …“ ertönte gleichsam ein Startschuss, der die vierzehn Akteure über die rechtwinklig angeordnete Spielfläche stürmen ließ. Und da ohnehin jeder die Handlung kannte, galt dem Spiel der Kinder die größte Aufmerksamkeit. Und das war putzig, lustig und komisch. Die dunkelhaarige Elvira gab ein bezauberndes Schneewittchen im weißen Kleid, das mit kleinen schwarzen Stoffquadraten bedeckt war. Als die sieben Zwerge sie erstmals erblickten, reichte ihre Bewunderung bestimmt über das Textbuch hinaus. Doch ihre fleißige Arbeits- und Schneewittchen-Rettungsbrigade war selbst auch Publikumsliebling im BTT. Wie die Orgelpfeifen aufgebaut – der jüngste Zwerg zählte drei Lenze – schwebten sie wie ein Ballett übers Parkett: „Hallo, wir sind so froh!“ Und sie wurden erst durch die mörderischen Anschläge der neidischen Stiefmutter, die obendrein Königin war, erschüttert. „Spieglein, Spieglein an der Wand …“ Christine hatte diese undankbare Rolle übernommen, die ihr zum Beispiel mehrfaches Umziehen bei hohem Spieltempo abverlangte (Kostüme und Requisiten: Fundus Kulturring in Berlin e.V.). Immerhin musste sie ihre mörderischen Utensilien Gürtel, Kamm und Apfel in verwickelter Bekleidung zu Schneewittchen tragen. Und weil der vom Jäger, den Zwergen bis zum Prinzen nur gute Menschen zur Seite standen, musste sich Königin Christine – nachdem sie sich der Krämerskluft entledigt hatte – immer wieder von ihrem Spiegel anhören: „… aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen ist tausendmal schöner als Ihr.“ (Der „Spiegel“ im Tschechow-Theater war übrigens blond und bescheiden, denn schön anzuschauen waren alle. Der Beifall sprach Bände).

Die Faszination des Bühnenspiels

Bei näherer Betrachtung muss man sagen, die Gebrüder Grimm haben schon gruselige, ja hochgradig kriminelle Geschichten in die Kinder- und Wohnzimmer gebracht. Wer aber die realen Kinder auf der BTT-Bühne gesehen hat, vergaß das schnell. Welch ein Liebreiz, welch eine Fröhlichkeit lag in dem Spiel der Kinder. Elvira als Schneewittchen lächelte ihre Mörderin noch charmant und arglos an, nachdem sie gewissermaßen schon zweimal von ihr ermordet worden war. Und sie, Christine, lächelte standesbewusst zurück, als wollte sie sagen: „Ist doch nur ein Spiel.“ Und was für eines, vor Publikum – vor allem Eltern, Verwandten und Freunden aus dem Kiez. Kein Spiel für sich, sondern für Andere; kein Spiel ohne Echo, sondern mit Wirkung. Faszinierend.

Bezirksstadträtin Witt (Die Linke) schrieb ins Gästebuch: „Vielen Dank für die Gelegenheit, hier im Theater bei einer Vorführung der Märchentage erleben zu dürfen, wie aktiv, engagiert und wirklich märchenhaft hier gearbeitet wird. Toll! Danke!“

Die BTT-Theaterwerkstatt für Kinder aus dem Kiez – das noch als Hinweis – bleibt weiter kreativ geöffnet. „Schneewittchen“ und ihr Ensemble gehen derweil auf Tournee durch Kindertagesstätten und andere Einrichtungen im Marzahner Stadtteil mit den vielen Zwergen hinter den Ahrensfelder Bergen.

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