Wir waren Nachbarn

Marie Rolshoven

„Wie konnte das passieren?“ – „Wie hätte ich reagiert?“ – „Wie reagiere ich heute?“

„Erst zwölf Jahre nach dem Kriege kam ich wieder nach Berlin. Ich wollte eigentlich niemals zurück, aber ein guter Freund, ein Schriftsteller und Psychologe sagte mir: ‚Du kannst die Vergangenheit nur überwinden, wenn Du der Gegenwart gegenüber stehst.’“

Dieser Satz stammt von der Fotografin Gisèle Freund, einer der Schöneberger jüdischen Künstlerinnen, die den Holocaust überlebt haben.

Im Fokus der Ausstellungsinstallation „WIR WAREN NACHBARN - 145 Biografien jüdischer Zeitzeugen“ im Rathaus Schöneberg stehen in diesem Jahr die Lebensgeschichten von 40 Schöneberger Künstlerinnen und Künstlern aus den Bereichen Musik, Bildende Kunst, Literatur, Film und Theater.

Erstmalig können die Besucherinnen und Besucher sich nicht nur in Fotos, Dokumente und Briefe der Zeitzeugen vertiefen, sondern gleichzeitig auch über Kopfhörer einigen der Originalstimmen lauschen. Zu hören sind u.a. Inge Deutschkron, Billy Wilder und Gisèle Freund, aber auch weniger bekannte Berliner kommen zu Wort. Kein Original-Tondokument gibt es von der Lyrikerin Gertrud Kolmar. Sie wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Die letzten Briefe an ihre Schwester Hilde liest die Schauspielerin Eike Steinmetz und gibt damit einen intimen Einblick in die letzten Lebensjahre von Gertrud Kolmar, bevor sie 1943 bei der sogenannten „Fabrikaktion“ verhaftet und deportiert wurde.

Was diese Menschen miteinander verbindet, sind ihre jüdischen Wurzeln und ihre einstige Heimat in Berlin-Schöneberg. Über 6.000 Menschen wurden vor den Augen ihrer Nachbarn deportiert.

Heute befinden wir uns bereits in der 3. Generation, aber die Fragen sind geblieben:

„Wie konnte das passieren?“ - „Wie hätte ich reagiert?“.

Der 19jährige Direl gehört zu einer Gruppe junger Türken und Araber aus Neukölln, die sich Heroes nennen. Ihr Coach, der Psychologe Ahmad Mansour, hat es sich in Berlin zur Lebensaufgabe gemacht, Antisemitismus bei jungen Muslimen zu bekämpfen und setzt dabei unter anderem auf die Konfrontation mit dem Holocaust. „Ich fand es schön, dass es einige deutsche Familien gab, die dann welche aufgenommen und bei sich versteckt haben“, kommentiert Direl die Ausstellung und fragt sich, „ob ich so was tun würde und (...) ich hoffe, ich werde dann von mir selbst nicht enttäuscht in so einem Moment.“

Antisemitismus und Intoleranz gibt es bis heute in Deutschland. Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen müssen vor gewalttätigen Übergriffen polizeilich geschützt werden. Der Angriff auf Rabbiner Daniel Alter am 28. August 2012 ist ein Beispiel dafür, dass jüdische Männer in Berlin nicht angstfrei mit einer Kippa auf dem Kopf über die Straße gehen können. Jugendliche hatten ihn im Beisein seiner siebenjährigen Tochter gefragt: „Bist du Jude?“ bevor sie ihn zusammenschlugen und schwer verletzten.

Die Frage, die wir uns heute stellen, lautet demnach weniger „Wie hätte ich reagiert?“, sondern „Wie reagiere ich heute?“.Die Ausstellungsinstallation „WIR WAREN NACHBARN – Biografien jüdischer Zeitzeugen“ ist das Ergebnis einer in den 1980er Jahren initiierten Zeitzeugen- und Erinnerungsarbeit des Kunstamtes Berlin-Schöneberg. Zentrales Anliegen der Kuratorin Katharina Kaiser war es von Anbeginn des Projektes, einen Perspektiv-Wechsel vorzunehmen. „Auf die verfolgten jüdischen Künstler soll nicht von außen nur als Opfer geschaut werden, sondern aus ihrer eigenen Sicht auf ihr ganzes Leben, ihre Kunst – und wenn sie überlebt haben – auf die Zeit nach ihrer Vertreibung aus Deutschland.“

Seit 2005 ist die Ausstellung im Rathaus Schöneberg beheimatet und wächst dank der Unterstützung vieler engagierter Menschen von Jahr zu Jahr. Der Verein „frag doch! Verein für Begegnung und Erinnerung e.V.“ übernahm 2012 die fachliche und organisatorische Betreuung des Ausstellungsprojekts in Zusammenarbeit mit dem Kulturring in Berlin e.V.

Am 27. Januar 2013 wird die Ausstellung zum internationalen Holocaust-Gedenktag mit neu erstellten biografischen Alben und Tondokumenten jüdischer Künstlerinnen und Künstler eröffnet.

Ausstellungseröffnung ist am 27.01.2013 um 17 Uhr im Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz 1, 10825 Berlin. Die Ausstellung ist ganzjährig geöffnet Mo. - Do. 10 - 18 Uhr; Sa. + So. 10 - 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Bitte erfragen Sie Rahmenprogramm und Führungen: Projekt : WIR WAREN NACHBARN

Tel. (030) 90277 4527

www.wirwarennachbarn.de

projekt@wirwarennachbarn.de

Veranstalter: frag doch! Verein für Begegnung und Erinnerung e.V. in Kooperation mit dem Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin, Abt. Schule, Bildung und Kultur, und dem Kulturring in Berlin e.V.

Archiv