Documenta: Kein Resümee; ein Eindruck

Petra Hornung

Lange sind sie noch nicht verhallt, diese unsere klagenden und berechtigten Vorwürfe, als Kunstmenschen nur provinziell über zeitgenössische Kunstentwicklung und überhaupt urteilen zu können, wenn man zum Beispiel die Documenta, die weltweit als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst gilt, nicht sehen durfte. Seit ’89 haben wir sie nun, alle fünf Jahre, und nun wurde es wirklich Zeit, den Ort der einstigen Begierde aufzusuchen. Kann sein, es gab genug Anderes, Neues, kann sein, dass nicht alle Blütenträume reiften, kann sein, das ganze Brimborium um Kunst war eher dazu geeignet zu verunklaren als zu erhellen. Und doch, und gerade deswegen, sollte man sich das nächste Mal auf den Weg nach Kassel machen.

Im Grunde aber macht es wenig Sinn, im Vorfeld dem Konstrukt der zahlreichen Theorien eine Kontur abgewinnen zu wollen. Zu sehr gehen die Ansätze auseinander; zu wenig greifbar sind die Wertungen. Die künstlerische Leiterin der 13. Documenta, Carolyn Christov-Bakargiev, findet dafür die für mich atmosphärisch stimmigste These: „Das Rätsel der Kunst besteht darin, dass wir nicht wissen, was sie ist, bis sie nicht mehr das ist, was sie war.“

Also ist es das Beste, mit allen Sinnen offen zu sein für alles, sich nicht von Vorberichten irritieren zu lassen, die sich zum Beispiel um die Kunstkompetenz des Hundes scheren, nicht den Abbildungen glauben. Sie geben nichts her, wirken in den meisten Fällen eher lapidar als anregend. Sich selbst ein Bild machen, lohnt allemal. Es wird Vorurteile bestätigen und ebenso zum radikalen Überdenken der eigenen Maßstäbe führen. Das sind gute Aussichten. Dass in diesen Prozess diverse Irritierungen hineinspielen – Abscheu und enorme ästhetische Berührung, Qualität und Schrott, Minimalistisches und Ausschweifendes sozusagen nahe beieinander sind – sollten wir annehmen.

Ca. 150 Künstler aus 55 Ländern stellen aus; Malerei, Fotografie, Performance, Objekte, Videos, Nichteinordnenbares, Nichtsagbares… Archäologie, Philosophie?

Die 1. Überraschung: Wie sich eine nun wirklich unschön in die Jahre gekommene Stadt wie Kassel durch Kunst krönt, verjüngt, verschönt… vor positiver Energie nur so sprüht. Da ist freies Leben vor den Orten, in denen Documenta drin ist. So fühlt sich das zumindest an: Alte, Junge, höchst unterschiedliche Typen, ein bisschen verrückt oder ausgesprochen „kunstkennerisch“, Kunstfreunde oder nicht. Neugierig, friedlich, offen, entspannt. Das haben wir in Dresden nicht hingekriegt.

Die Hauptorte sind alle wunderbar und sehenswert. Man begibt sich in Refugien. Die Karlsaue als großer barocker Landschaftspark war dieses Mal komplett eingebunden. Es ist so schön dort, aber die Chance, via Kunst raumgreifend etwas wirklich Atemberaubendes zu schaffen, konnte ich nirgends entdecken. Wenn diese Stein-Baum-Skulptur von Giuseppe Penone wirklich so ein Aufsehen erregte und geradezu als Symbol der ganzen Schau gilt – dann spricht das für sich.

Wenn man seinen Besuch mit dem Fridericianum beginnt, trifft man zunächst auf das klischeebehaftete Phänomen: “Wie Sie sehen, sehen Sie nichts.“ Lediglich ein kleiner Windhauch von irgendwoher kühlte die nichtbedürftige Stirn des Besuchers dieser heiligen Hallen. Man kann das ruhig enttäuschend finden, aber man kann es auch gelassen nehmen, angesichts der genug deutlich gesprochenen Worte zum „Konzept der Konzeptlosigkeit“. Dieses setzte sich auch beim weiteren Verlauf innerhalb des Ausstellungsortes fort. Und doch gab es genug irritierende und anregende Exponate: u.a. einen frühen Morandi, unglaubliche Lebensgeschichten, brisante Wüstenteppiche, ein furchterregendes Gruselkabinett mit originalen Artefakten und Fotografien fürchterlicher menschlicher Missbildungen durch Natur oder Krieg oder Ornamentik, baktrische Prinzessinnen, eine riesige Fotocollage mit einer höchst gefährlichen Schlange in der Mitte (Ausmaß etwa 17 x 5 Meter!) ...

Das, was in der Documenta-Halle zu sehen war, hat mich total beeindruckt: ein großer Atem, und zwar thematisch, inhaltlich, künstlerisch; die Ansätze geradezu klassisch, das heißt auch feinste handwerkliche Qualität. Die dort gezeigten Filme waren von großer künstlerischer Intensität. Die Vorliebe fürs Überdimensionale kann sozusagen als Tendenz gelten. Thomas Boyle hat die Halle mit den zwei riesengroßen Arbeiten zu seiner Bühne gemacht. Die Flugzeuginstallation/Collage aus tausenden Fotos – der Traum vom Fliegen (unser Titelbild). Gegenüber ist die Wandarbeit in akribisch feinstem Raster von ebenso zahlreichen Autobahnfragmenten platziert. Synchronität und Virtuosität können hierbei als Schlüsselbegriffe gelten.

Ebenso monumental wie empfindsam dicht ist die Zeichnung / das Gemälde von Julie Mehretu, das sich als komplexe Komposition mit abstrakten und konkreten Linien und Farben als Verweis auf Historisches, Architektonisches, Gelebtes versteht. Einer höchst faszinierenden Bilderwelt konnte man im Raum der Pakistanerin Nalini Malani begegnen. Ein die Sinne provozierender Raum vom Feinsten. Du bist plötzlich in einer Kunstwelt, der man sich nicht entziehen kann; Sog, Traum, Kraft, Geheimnis, Poesie – eine verblüffende kinematische Erfahrung nimmt gefangen. Fünf sich drehende, meisterlich bemalte, mit Zeichen versehene Glaszylinder entwerfen die wundersamsten Gebilde aus Licht, Farbe und Schattenspiel. Verweise auf buddhistische Gebetsmühlen, Heiner Müllers Hamletmaschine, die Bilderwelt vom Fluch der Seherinnen … Klang. Die Zusammenhänge brauchen sich nicht bis ins Detail erschließen. Die Ahnungen alter Sehnsüchte und Mythen scheinen auf, die Vergeblichkeiten, Zweifel und Hoffnungen …

Wir werden in dem guten Gefühl entlassen, dass solche genussvolle Ernsthaftigkeit einzig und allein die Kunst stiften kann. Allein diese Erkenntnis aufzufrischen, hat den Besuch gelohnt. Die nächste Documenta kommt bestimmt.

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