„Ja das Schreiben und das Lesen...“

Dr. Reinhardt Gutsche

Vor nunmehr fast 40 Jahren stellte der berühmte US-amerikanische Medientheoretiker und -kritiker Neil Postman zwei gängige wie düstere Zukunftsszenarien einander gegenüber, die von George Orwell („1984“) und die von Aldous Huxley („Schöne neue Welt“): „Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, dass es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, dass wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley befürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte.“ (Neil Postman, „Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“, Frf/M., 1985, S. 7f.) Postman sah sein Land an der Übergangsschwelle vom Gutenberg- zum Fernsehzeitalter mit fatalen Folgen für die allgemeine Kommunikationskultur in den USA, insbesondere für die junge Generation: „In Amerika haben die Kinder im Schnitt schon 5000 Stunden vor dem Fernseher gesessen, bevor sie das Kindergartenalter erreichen, und 16000 Stunden, bevor sie die High School hinter sich haben.“ („Der konservative Blickwinkel“, Vortrag vor dem „Wiener Klub“, in: „Die Verweigerung der Hörigkeit“, Frf/M. 1988, S, 123) Das Ergebnis ist ein Land, dessen Gründergenerationen noch zu den belesensten der seinerzeitigen Welt gehörten, in dem aber am Ende des 20. Jahrhunderts ein Drittel der Bevölkerung Analphabeten oder leseunfähig ist.

Seitdem dürfte dieser Befund nicht weniger zutreffen, mit der Verbreitung des Internets und der Online-Spiele-Kultur eher noch drastischer ausfallen.

Und hierzulande? Nun, amerikanische Verhältnisse auf diesem Gebiet haben wir glücklicherweise noch nicht. Aber immerhin sind nach einer Studie der Universität Hamburg 14 Prozent der Erwerbsfähigen in Deutschland zu den sog. funktionalen Analphabeten zu zählen. Dazu kommen diejenigen, die zwar lesen können, aber nicht mehr wollen: Jeder vierte Deutsche liest überhaupt keine Bücher. Dieser „relative Analphabetismus“ habe fast alle gesellschaftlichen Schichten erreicht und mache auch nicht halt vor Studenten mit „intellektueller Legasthenie“, die abstrakte Texte nicht mehr verstehen, und Bank-Managern, die Lesekurse besuchen.

Eine verblüffende Beobachtung im Land der Dichter und Denker, aber auch in einer „wissensintensiven Gesellschaft“, in der die „Lesefähigkeit eine Grundvoraussetzung für Erfolg im Leben“ ist, wie die Verfasser der OECD-Studie „Lesen kann die Welt verändern“ zu Recht schreiben. Man lasse sich nicht täuschen von der überbordenden Titelflut auf den Buchmessen und in den Buchkaufhäusern: Gekauft und wirklich gelesen werden davon nur wenige, wie es in der „Prognose zum Buchmarkt 2020“ des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels heißt.

Aber es gibt auch positive Trends: Einer Studie des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv) zufolge hat sich mit 29 Prozent der über 14-Jährigen der Anteil der Nutzer öffentlicher Bibliotheken seit 1996 nicht verändert, angesichts des digitalen Medienwandels eigentlich eine erfreuliche Feststellung.

Eine ganze Menge wird auch dafür getan, um die Lesekultur in Deutschland zu fördern und zu ermutigen und dem vermeintlichen Lesemuffel-Trend entgegenzuwirken. So veranstaltet seit 2004 die „Stiftung Lesen“ bundesweite „Vorlesetage“ in Schulen, Kindergärten, Bibliotheken oder Buchhandlungen mit Prominenten aus Politik, Kultur, Medien und Sport. Ihre „Initiative Lesestart“ ist die bislang größte frühkindliche Sprach- und Leseförderinitiative Deutschlands. Sie begleitet den UNESCO-Welttag des Buches am 23. April mit zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen wie der Aktion „Lesefreunde“, bei der in diesem Frühjahr insgesamt eine Million Bücher neue Leser fanden, die 33.333 Lese-Fans aus einer Titelliste von 25 Büchern ausgewählt und zum Welttag des Buches verschenkt hatten. Das Institut für Lese- und Medienforschung Mainz und die Akademie für Leseförderung in Hannover sollen die Lesekompetenz ebenso befördern wie der Lehrerclub und die Lesebotschafter der Stiftung.Aber eine ganz originelle Initiative kommt aus Berlin, die „Woche der Sprache und des Lesens“. Ihr Spiritus rector und bisher auch Hauptorganisator ist der türkischstämmige Psychologe Kazim Erdogan vom Verein „Aufbruch Neukölln e.V.“. Seit 2006 zunächst nur in Neukölln, wird sie in diesem Jahr mit fast 1000 Veranstaltungen unter der Schirmherrschaft von Christina Rau, der Witwe des früheren Bundespräsidenten, erstmals berlinweit ausgerichtet. „In unserer Gesellschaft wird der PISA-Studie und anderen Untersuchungen zufolge zu wenig gelesen, gesprochen und kommuniziert“, so Kazim Erdogan. „Wir wollen mit der Woche der Sprache und des Lesens dieser unerfreulichen Situation entgegentreten und den Berlinerinnen und Berlinern verschiedener Generationen, unterschiedlicher Kulturen und Sprachen die Möglichkeit geben, den Reichtum der Sprache und des Lesen zu erleben.“ Die Initiative richtet sich natürlich vor allem an Kinder und Jugendliche in Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen, denen in Lesungen, Mitmachaktionen und weiteren Veranstaltungen der Spaß an der deutschen Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten und deren Schönheit als Kommunikations- und Verständigungsmittel vermittelt werden soll. Dazu kommen Aktionen auf öffentlichen Plätzen, in der U-Bahn, in Cafés, Geschäften und Kultureinrichtungen. In der Hasenheide wurden z. B. 10000 Bücher zum Mitnehmen an Bäume gehängt. Fast 300 Autoren aus ganz Deutschland, darunter der Georg-Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius und die Kinderbuchautorin Sybille Hein, hatten ihre Teilnahme zugesagt, aus eigenen und fremden Werken, und das nicht nur in deutscher Sprache, zu lesen. Zu den engagierten Unterstützern gehört die populäre scharfzüngige Kolumnistin Mely Kiyak („Lesende Menschen sind Yoga für meine Augen.“). Auch der Kulturring in Berlin e.V. zählt in diesem Jahr erstmals zu den teilnehmenden Veranstaltern. Ein besonders originelle Idee hatte die Ingeborg-Drewitz-Bibliothek in Steglitz mit ihrem Workshop zur Gebärdensprache.

Mit seiner Initiative will Kazim Erdogan auch einen praktischen Beitrag zur interkulturellen Verständigung in der Multi-Kulti-Stadt Berlin mit seinen über 150 hier ansässigen Nationalitäten und Ethnien leisten. Nicht zuletzt aus eigener Erfahrung als Therapeut und Psychologe weiß er: „90 Prozent der Probleme unserer Gesellschaft beruhen auf Kommunikations- und Sprachlosigkeit.“ Als Sohn analphabetischer Eltern aus einem türkischen Dorf kam Erdogan vor fast 40 Jahren ohne jegliche Deutsch-Kenntnisse nach Deutschland. Dieses damalige Gefühl der Hilflosigkeit aus mangelnder Sprachkenntnis hat ihn nachhaltig geprägt und für dieses Problem sensibilisiert. Er absolvierte Deutschkurse, studierte dann an der Freien Universität Psychologie und Soziologie, half nebenbei seinen Landsleuten, Formulare und Schriftstücke zu übersetzen, Behördenbriefe zu tippen usw. Seit vielen Jahren trägt er nun in vielfältigen Initiativen und Vereinen maßgeblich dazu bei, das interkulturelle Zusammenleben im Problembezirk Neukölln gedeihlich zu gestalten.

Dass der Beginn dieser „Woche der Sprache und des Lesens“ am 1. September mit einem unseligen Jahrestag zusammenfällt, sollte in seiner symbolischen Bedeutung nicht ausgeblendet bleiben: Dieses Datum wird in alle Ewigkeit mit der Entscheidung der deutschen Militär- und Staatsführung im Jahre 1939 verknüpft bleiben, mit der Aggression gegen Polen den II. Weltkrieg auszulösen. Diesen „Weltfriedenstag“ oder „Antikriegstag“, je nach nationaler Tradition, damit zu begehen, das Lesen und die sprachliche Verständigung zwischen den Volksgruppen zu fördern, ist eine würdige und zugleich konstruktive Form des Gedenkens, denn damit wird letztlich auch ein wenig die Fähigkeit zum kritischen Nachdenken gefördert und der Versuchung entgegengewirkt, sich einer zunehmend analphabetischen, infantilen, geschichtsvergessenen und flachwurzligen Spaß- und Infotainement-Kultur auszuliefern.

In Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, so der eingangs erwähnte Neil Postman, „leiden die Menschen nicht daran, dass sie lachen, statt nachzudenken, sondern daran, dass sie nicht wissen, worüber sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken.“

Aktionen wie „Die Woche der Sprache und des Lesens“ darf man auch als kleinen Beitrag in dem Bemühen verstehen, uns diese „Schöne neue Welt“ zu ersparen...

Archiv