„Der Mensch lebt nicht von Brot allein“

Dr. Reinhardt Gutsche

Büchertische sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Ob bei Konferenzen, Kongressen, politischen Veranstaltungen, Lesungen, Kirchentagen, sogar Theatervorstellungen, oft sind in den Foyers der Veranstaltungsorte Tische mit zum jeweiligen Thema passenden Büchern aufgestellt, eine Ergänzung zu den traditionellen kommerziellen Buchläden oder großen Buchhandelsketten. Die Geschäftsidee beruht ganz offensichtlich auf der Annahme, die Veranstaltungsbesucher würden durch die jeweils zur Debatte stehenden Themen dazu angeregt, sich zu Hause nochmal genauer und vertiefend damit zu befassen. Mit der vorgelegten Bücherkollektion wird ihm auch noch die Mühe abgenommen, selbst in dem Dschungel der Neuerscheinungen nach den passenden Titeln suchen zu müssen.

Eine andere Art von Büchertischen findet sich vor vielen Universitäten oder auf Trödelmärkten, den mobilen Antiquariaten. Neben den Schnäppchen bei Restauflagen oder Mängelexemplaren besteht deren Reiz eher im Entdecken des Zufälligen, Unerwarteten oder längst verschollen Geglaubten. Wer mal auf den Seine-Quais von Paris an den Holzläden der legendären „Bouquinistes“ vorbeigeschlendert ist und in den alten Folianten oder vergilbten Büchern geblättert hat, wird die atmosphärische Faszination nie vergessen, die ein solcher Bummel, zumeist auch eine Reise in die Vergangenheit, erzeugt.

Seit einigen Jahren hat diese Praxis des mobilen kommerziellen Buchvertriebs nun eine Ergänzung in der sog. Non-Profit-Sphäre gefunden. Hier geht es nicht darum, mit Büchern Geld zu verdienen, sondern eher darum, Bücher vor dem Wegwerfen zu retten. Vielen Menschen tut es einfach weh, mit ansehen zu müssen, wie Bücher, für die sich in der Wohnung kein Platz mehr findet, einfach in die Papiertonne wandern. Immer mehr Haushalte müssen aufgelöst oder verkleinert werden, in denen sich viele Bücher angesammelt haben, die zwar keinen monetären Tauschwert mehr, aber vielleicht einen ideellen Wert darstellen. Wohin damit? Manche finden ihren Weg in die Stadtbibliotheken, die täglich mit vielen Kisten und Bücherkartons überhäuft werden. Was nicht mehr in den Bestand eingearbeitet werden kann, landet dann auf den Trödeltischen, deren Erlöse die Neuerwerbungsbudgets etwas aufbessern helfen.Ganz andere Intentionen verfolgen hingegen die Büchertische der sog. Medienpoints, wie die Stützpunkte genannt werden, wie sie auch der Kulturring in Berlin betreibt, und in denen aus einem großen Spendenfundus alte Bücher, CDs, usw. an Einkommensschwache kostenlos weitergereicht werden. Nicht alle haben den Mut oder den Antrieb, sich aus eigener Initiative in diese Einrichtungen zu begeben. Viele von ihnen haben vielleicht noch nie in ihrem Leben ein Buch gelesen. Nicht wenige sind womöglich sogar Analphabeten. Daher die Idee, sich mit den Büchern zu den Bedürftigen hin zu begeben und sie dort direkt an den Mann oder die Frau zu bringen. „Kommt der Berg nicht zum Propheten...“

Einer dieser Büchertische wird regelmäßig vor der Dreifaltigkeitskirche in Lankwitz aufgestellt. In den Räumen der Kirche verteilt die Aktion „Laib und Seele“ Lebensmittelrationen an Bedürftige. In Frankreich hat man für solche Hilfsaktionen den schönen Namen „Restaurants du coeur“ - „Restaurants des Herzens“ gefunden. Auch an diesem Mittwochvormittag hat sich schon lange vor Beginn der Lebensmittelverteilung eine lange Schlange von Bedürftigen gebildet, was für manche ohne Zweifel auch etwas Entwürdigendes hat. Jeder kommt an dem Tisch des Medienpoints Steglitz des Kulturrings vorbei, auf dem Bücher, CDs, DVDs, Videokassetten usw. ausgebreitet sind. Diesmal ist sogar ein Italienisch-Kurs darunter. Gefragt sind vor allem Krimis, Kinderbücher, Kochbücher, Ratgeber. Charlotte S., etwa 30 Jahre, hat ein Jahr in Metz in einem kirchlichen Sozialprojekt gearbeitet und steht hier in Berlin als alleinerziehende Mutter einer Tochter im Vorschulalter nun selbst in der Schlange der Bedürftigen. Mit ihren in Frankreich erworbenen Französisch-Kenntnissen und sozialen Kompetenzen hat sie bisher in Berlin noch keine Arbeit finden können. Interessiert hält sie die Video-Kassette mit dem Film „Buena Vista Social-Club“ in den Händen. „Das ist ja interessant!“ Der Wim-Wenders-Film scheint symbolisch für die Situation zu sein, die hier vor der Kirchentür herrscht: Mit sozialem Zusammenhalt und Kultur scheint es leichter, Armut und karge Lebensbedingungen einigermaßen würdevoll zu ertragen. Charlotte S. packt den Film ein, dazu eine noch gut erhaltene Ausgabe von „Pippi Langstrumpf“ für die Tochter.

Seit sieben Jahren organisieren Ellen S. und Stephanie L. diesen Büchertisch vor der Lankwitzer Dreifaltigkeitskirche. Eine Menge Arbeit, denn alles muss alleine gemacht werden, vom Einpacken der Bücher in die drei bis vier Kisten, dem Transport per Sackkarre oder Auto bis zum Verteilen. Dies ist stets mit einem Schwatz verbunden, einer Empfehlung oder einer Erläuterung zu Autor oder Thema des Buches. Es werden auch Bestellungen entgegengenommen, die in einer gesonderten Kiste bereit gehalten werden. Überraschend in der heutigen Vormerkkiste: „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf.

Ellen S. Hat genau nachgerechnet: Im Laufe der Jahre sind nahezu 24 000 Titel über den Büchertisch in Lankwitz gegangen. Bei jeder Buchtisch-Aktion sind es zwischen 60 und 120 Titel. „Laib und Seele“ heißt die Aktion des Vereins „Berliner Tafel“, bei dessen Lebensmittelverteilung der Büchertisch angedockt ist. Besser kann der Name nicht sein, soll sich die Hilfe nicht auf das technisch-bürokratische Austeilen der Lebensmittel beschränken. Denn „Der Mensch lebt nicht von Brot allein ...“ , wie es schon in der Bibel heißt.

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