Das hat vor dreißig Jahren...

Hannelore Sigbjoernsen

Nein, dass die Welt eine solche Entwicklung nehmen wird, wie sie sich heute darstellt – zerrissen, zerstritten, von kriegerischen Auseinandersetzungen gebeutelt, von gegenseitigen Drohgebärden der Supermächte beunruhigt, von...  – Die Aufzählung der Negativposten ließe sich fortsetzen. Nein, daran hat vor dreißig Jahren niemand gedacht. Schon gar nicht in unserem Land. Man lag sich in den Armen, nachdem die Mauer gefallen war, die nicht nur das Land geteilt, sondern auch Familien, Freundschaften, Liebende zerrissen – und vor allem Millionen Menschen eingesperrt hatte. Doch die Euphorie erfuhr bald Ernüchterung, der Alltag mit all seinen Wende- und Westerfahrungen hat sogar manche Familien wieder auseinander getrieben. Die Sorge um das Wie und Weiter in Europa und der Welt greift weiter um sich.

Zu Beginn einer Vortragsreihe „Die Revolutionen in der DDR und in Ostmitteleuropa“ (März 2019 in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt) stellte Dr. Markus Meckel, Minister a. D. und Vorsitzender der Stiftungsrates der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fest, dass es noch keinen wissenschaftlichen Konsens in der Betrachtung der Ereignisse in Osteuropa um 1989 gibt. Hier ist nicht der Platz, darüber nachzudenken, ob und wie der Mauerfall und der Zusammenbruch des Ostblocks die Entwicklung bis ins Heute beeinflusst haben. Unumstößlich aber ist, dass die Ostdeutschen sich ihre Freiheit selbst erkämpft haben – begonnen mit allen regimekritischen Aktionen der 1970er und 1980er Jahre, der Aufdeckung der SED-Wahlfälschungen in der DDR 1989 bis hin zur Einberufung der Runden Tische, um nach dem Mauerfall Gewalt zu verhindern, Verwaltungen aufrecht zu erhalten und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Nicht zu bestreiten ist zudem, dass das Ergebnis der „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ den Nachkriegszustand für beide deutsche Staaten beendete und den Weg ebnete, auf dem sich die europäischen Länder treffen konnten.
Diese Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und Legendenbildungen vorzubeugen, sah sich der Kulturring in Berlin e.V. seit seiner Gründung 1994 in der Pflicht. Er hat sich als einer der wenigen Freien Träger in Berlin mit der politischen Wende auseinandergesetzt und zum Beispiel das Wirken ihrer Protagonisten in den drei Ortsteilen von Berlin-Pankow dokumentiert. Gemeinsam mit dem damaligen Bezirksamt und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik initiierte er 2004 die Aufstellung eines Denkzeichens vor dem „Haus Berlin“ auf dem Pankower Schlossgelände. Ob der Tafeltext geändert werden muss, falls Großbritannien der EU den Rücken kehrt – auch das gehört nicht hier hin. Wichtig aber ist dem Kulturring heute nach 30 Jahren, dass vor allem jungen Menschen, die weder die DDR, noch die BRD in den 1980er Jahren erlebt haben, vermittelt wird, wie das alles geschah. Wer von ihnen kann noch verstehen, dass 1961 mitten durchs Land eine Mauer gebaut wurde und warum, wenn sie nichts vom Entstehen der beiden Deutschlands 1949 wissen, nichts von dem Druck, der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs auf das geteilte Land ausgeübt wurde, ihrer Politik zu folgen.

Der Verein wird keinen Geschichtsunterricht erteilen oder gar nachholen. Aber mit unterschiedlichen Veranstaltungen wollen wir innerhalb eines sog. Themenmonats unter dem Titel „Rückblick, Durchblick, Ausblick – 30 Jahre Mauerfall“ Schülern und jungen Erwachsenen etwas über die Zeitläufe vor und nach dem Mauerfall vermitteln. Schüler aus einer Schule in Prenzlauer Berg und aus Hellersdorf begeben sich auf Spurensuche nach der ehemaligen Mauer zwischen Ost- und Westberlin. Sie führen Gespräche mit Erwachsenen aus ihrem Lebensumfeld, unterhalten sich u.a. mit Senioren des Elisabethstiftes in der Eberswalder Straße über die Zeit vor und nach dem Mauerbau, malen und gestalten das Erfahrene und schmücken mit ihren Arbeiten eine symbolisch aufgebaute Mauer.

Um den nach 1990 eingetretenen Wandel zu einer demokratischen Gesellschaft nachvollziehen zu können und dazu beizutragen, dass die Chancen des demokratischen Miteinanders und der Weltoffenheit verstanden werden, ist eine Filmreihe im Kino „Brotfabrik“ geplant, die nicht nur deutsche Produktionen, sondern auch Beiträge aus Lettland vorstellt, in denen besonders der Aufbruchs- und Veränderungswillen Jugendlicher um 1989 und danach gezeigt wird. Noch sind nicht alle Termine des Monats besetzt, aber zum Abschluss wird es ein von deutschen und lettischen Künstlern gestaltetes Konzert im Pankower Kulturhaus „Wabe“ geben, mit dem gleichzeitig der Jahrestag der Staatsgründung Lettlands 1918 und damit der 101. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes gewürdigt wird.

Archiv