Einwurf: Es droht nicht nur der Kulturinfarkt

Dr. Reinhardt Gutsche

„Kultur ist jeder zweite Herzschlag unseres Lebens“. An diesen Satz von Johannes R. Becher, dem ersten Präsidenten des DDR-Kulturbundes, muss man zwangsläufig bei der gegenwärtigen aufgeregten und kontroversen Debatte denken, die durch das Buch „Kulturinfarkt“ ausgelöst wurde. Die Anhäufung kardiologischer Metaphern deutet darauf hin, dass hier nicht gerade ein marginales Randthema verhandelt wird, sondern es um vitale, wenn nicht lebensexistenzielle Fragen des „Gesellschaftskörpers“ geht. Lange ist hierzulande nicht derart leidenschaftlich und kontrovers über ein Buch diskutiert worden, das dem „SPIEGEL“ einen Vorabdruck wert war und so gleichsam vor Erscheinen geadelt wurde.

Was hat denn nun die Gemüter derart in Wallungen versetzt? Die vier Autoren, zumeist profilierte Kulturbeamte oder -manager, behaupten, in der deutschen Kulturlandschaft gebe es „von allem zu viel und überall das Gleiche“. Ja, man habe es mit nichts weniger zu tun als mit einer veritablen „kulturellen Aufrüstung und Flutung“. Ginge es nach ihnen, dann stünden die Hälfte aller öffentlich geförderten Kultureinrichtungen wie Theater, Opern und Museen zur Disposition. Das gesparte Geld solle dann umverteilt werden, zum Beispiel an Laiengruppen.

Nun sind Umverteilungsdebatten nichts Ungewöhnliches. Sie schwappen immer dann hoch, wenn der Kuchen, den es zu verteilen gilt, immer kleiner wird. Und in der Tat ist es fraglich, ob man die Elbphilharmonie wirklich braucht, wenn zur gleicher Zeit den Theatern in Wuppertal und Schwerin das Aus droht. Oder ob die zum alljährlichen Schaulaufen politischer Prominenz gerierten Bayreuther Festspiele tatsächlich aus Steuermitteln künstlich beatmet, um nicht zu sagen „gepampert“, werden müssen, ohne dass Otto Normalzuschauer jemals die Chance hätte, eine Karte zu ergattern. Aber der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass es nicht nur um einen neuen Sparvorschlag in Zeiten nicht enden wollender Budget-Krisen geht, mit dem dieser oder jener überflüssige Zweig eines angeblich üppig wuchernden Baumes öffentlich geförderter Kultur gestutzt, sondern dass gleich die Axt an dessen Wurzeln gelegt werden soll. Über kurz oder lang liefe das auf einen kompletten Rückzug der Öffentlichen Hand aus Kunst und Kultur hinaus, deren Protagonisten dann schutzlos den Dschungelgesetzen des freien Marktes ausgesetzt wären. Allmählich sollen sich auch in diesem Bereich privatwirtschaftliche Paradigmen durchsetzen und bis dahin vorerst zumindest das sog. New Public Management-Modell eingeführt werden. Im BWL-Jargon „Governance-Ansatz“ genannt, will man damit aus Künstlern Unternehmer machen.

Als ob dies nicht schon hanebüchen genug wäre, machen die Autoren letztlich auch keinen Hehl daraus, dass es ihnen nicht nur um anstehende Korrekturen bei Ebbe in den öffentlichen Haushalten gehe, sondern ums Eingemachte des in Europa mit der Demokratie und unter dem Druck von unten gewachsenen Zivilisationsmodells. Das kulturpolitische Programm einer „Kultur für alle“ wird kurzerhand zur tief in der deutschen Klassik wurzelnden und damit wohl obsoleten bürgerlichen Bildungsutopie abserviert. Für das Schillersche Credo der „ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ haben sie nur Hohn übrig. Längst könnten Kunst und Kultur weder das individuelle noch das kollektive Glücksversprechen erfüllen. Sie ermöglichten weder die Vervollkommnung des Einzelnen noch erlösten sie von den Zumutungen der Globalisierung und Moderne. Sie stifteten weder den Zusammenhalt der Nation noch hülfen sie bei der Integration des Fremden. Vor allem aber, und das ist wohl des Pudels Kern, beförderten sie nicht die das ökonomische Wachstum durch eine blühende „Kreativwirtschaft“. Der ganze Kulturstaat sei nichts als ein Fetisch, in dem alle diese Wunschvorstellungen kulminierten.So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass dieser Tobak überwiegend auf herbe bis sarkastische Kritik stieß, wenn nicht einen Sturm der Entrüstung auslöste. Hortensia Völcker, Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, wies die Thesen ebenso zurück wie der Vorsitzende des Deutschen Kulturrates Max Fuchs. Oliver Reese, früherer Intendant des Frankfurter Schauspielhauses, nannte die Verfasser „Kulturbesserwisser“, die nicht etwa vorgeschlagen, das kulturelle und gesellschaftliche Tafelsilber zu verkaufen, sondern es vielmehr gleich zum Fenster hinaus zu schmeißen. Dietrich Leder, Professor für Fernsehkultur an der Kunsthochschule für Medien in Köln, vergleicht die empfohlene Liquidierungsorgie mit den Zuschauer-Gesten der antiken Gladiatoren-Kämpfe „Daumen hoch oder Daumen runter“ und hält dies für „Facebook-Ideologie avant la lettre“. Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, meint: „Die Gesellschaft braucht Räume, in denen ein weitgehend von ökonomischen Interessen freier Diskurs noch möglich ist, ohne dass einem etwas verkauft wird.“ Nach Johan Simons, Leiter der Münchner Kammerspiele, bringt die freie Marktwirtschaft in der Kultur „mehr und mehr lauwarmen Einheitsbrei hervor“. Dass der Markt eine bessere Kunst hervorbringe als ein staatliches System, hält Thomas E. Schmidt in der „Zeit“ mit Blick auf die zeitgenössische Kunst zumindest „für eine recht abenteuerliche These“. Die frühere Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler kritisiert schließlich „den neoliberale Jargon von Unternehmensberatern und Haushaltspolitikern, in deren Dienst sich die vier, allesamt gut alimentierte Kulturfunktionäre und Unternehmensberater, stellen“.

Diese Reaktionen sind ein Versuch, sich einem Prozess kulturellen Kahlschlags entgegenzustellen, der ja vielerorts schon längst düstere Realität ist. Öffentliche Zuwendungen in Kunst und Kultur sind keine „Subventionen“ sondern Investitionen in die „soziale Nachhaltigkeit“, d. h. in die Kohärenz einer Gesellschaft, die durch die zunehmende Monetarisierung aller menschlichen Beziehungen auseinander zu brechen droht. Es geht um den Erhalt des „sozialen Kapitals“, das zwar nicht an der Börse gehandelt wird und keine kurzfristige individuelle Shareholder-Dividende abwirft, aber die conditio sine qua non ist für solche demokratischen Werte und Menschenrechte wie das Streben nach Chancen- und Teilhabegerechtigkeit, Solidarität, Gemeinwohlorientierung, Toleranz und das Recht auf Selbstverwirklichung.

Es steht mehr auf dem Spiel als nur der Infarkt der Kultur: Stirbt die Kultur, dann fliegt uns alles um die Ohren. Dies zu verhindern, wird doch so ein reiches Land wie Deutschland 1 (in Worten: ein) Prozent seines BIP für die Kultur übrig haben. Kultur ist zwar nicht alles, aber alles ist nichts ohne Kultur.

Archiv