Bürger werden, statt Konsument bleiben | Das empfehlenswerte Buch: Erik Olin Wright fordert „Selbstermächtigung“ als Alternative im jetzigen Kapitalismus

Ulrich Clauder

Ein unbequemes Buch, ein sehr unbequemes Buch, hätte womöglich Marcel Reich-Ranicki kommentiert. Zwar erschien besagtes Buch schon 2010 in seiner englischen Ursprungsversion, allerdings erst fünf Jahre nach dem Tode des Literaturpapstes in stark überarbeiteter Fassung bei Suhrkamp auf Deutsch. Unbequem für all jene, die den gegenwärtigen Verhältnissen zwar ablehnend gegenüberstehen, jedoch behaupten, man könne der neoliberalen Dominanz ohnehin nichts wirklich Funktionierendes entgegensetzen. Unbequem auch für jene, die mit revolutionären Klassenkampf-Losungen die Gesellschaft attackieren und zugleich wissen, dass ihre Mails und Flugschriften eher peinlich berührtes Mitleid hervorrufen als ein nennenswertes Echo beim Weltproletariat.

Erik O. Wright, der am 23. Januar 2019 verstorbene amerikanische Autor, verweist auf real gangbare Auswege aus dem Hier und Jetzt in zukunftsfähigere Gesellschaftsstrukturen, ohne auf die in Europa und anderswo gescheiterten Versuche eines Staatssozialismus (bei Wright Etatismus genannt) oder auf den ebenfalls gescheiterten Sozialreformismus zu bauen. Er nennt seine Strategie „Selbstermächtigung" und beschreibt damit Erfolg verheißende Wege, wie „normale" Konsumenten im Kapitalismus wieder zu Bürgern mutieren, wirtschaftliche und politische Macht gewinnen können. Statt für die formale Vergesellschaflichung des Eigentums plädiert er für umfassende demokratische Kontrolle als Hauptfaktor realer Macht. Sein Anspruch: Einen Kompass zu beschreiben, der in Richtung dieser Alternative weist, die er schlicht „Sozialismus" nennt, den traditionellen Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus nahe. Demokratie sei die Bezeichnung für die Unterordnung der staatlichen unter die gesellschaftliche Macht („Zivilgesellschaft"), während Sozialismus der Begriff für die Unterordnung der wirtschaftlichen unter die gesellschaftliche Macht ist. Im Unterschied zum (seinen Anschauungen ansonsten nahestehenden) Anarchismus können die ermächtigten Bürger auf von ihnen strikt kontrollierte staatliche Strukturen nicht verzichten: Da die modernen Gesellschaften und ihre Wirtschaft viel zu komplex seien für ausschließlich direktdemokratische Regulierung, müsse ein „radikaldemokratischer Staat" planend und lenkend eingreifen

Was aber sind nun die „gangbaren Wege" in eine zukunftsfähigere Gesellschaft? Erst einmal räumt der Autor mit der Vorstellung auf, es gäbe „rein feudale", „rein kapitalistische" oder „rein sozialistische" totalitäre Gesellschaften: Die reale Entwicklung habe dagegen überall Mischformen hervorgebracht. Jeder Ossi wird sofort an feudale Jagdsitten der Obrigkeit und kapitalistische Handwerkerdienstleistungen im DDR-Staatssozialismus denken. Meine Überraschmg im bundesdeutschen Nachwende-Kapitalismus war groß, als ich Zeuge kommunistisch anmutenden Agierens des Betriebsrates in einem großen Konzern werden konnte. Und schließlich kennen wir hier in Berlin und seinen Kiezen zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure, die das Bild einer rein auf Profite ausgerichteten Gesellschaft systematisch durchlöchern. Und so zeigt E. O. Wright anhand von globalen Non-Profit-Netzwerken wie Wikipedia, aber auch von effektiven lokalen Netzwerken der Sozialwirtschaft in der kanadischen Provinz Quebec und anhand des leider inzwischen unter politischem Druck im Niedergang begriffenen Bürgerhaushaltes in der brasilianischen Millionenstadt Porto Allegre auf, wie es gehen kann mit dem Ausweiten von Nischen und Löchern, um der neoliberalen Dominanz längerfristig an den Kragen zu gehen. Auch die Selbstermächtigung der baskischen Mondragou-Genossenschafler zum führenden spanischen Lebensmittelanbieter Eroski wird als Beispiel beleuchtet. Untersucht wird, wie das breit diskutierte bedingungslose Grundeinkommen beschaffen sein muss, um über schlichte Reparatur am Kapitalismus hinauszuweisen.

Sympathisch am Vorgehen des Autors, dass er für erfolgreiche Selbstermächtigmg der Bürger keine Patentrezepte austeilt, sondern dauerhaft kontroverse Diskussionen vor allen Entscheidungen für unausbleiblich hält und das selbst in seinem Buch mit den genannten und anderen Erfahrungen aus vielen Regionen der Welt praktiziert. Wright versucht sich also an einem Kompass für anstrengend schöne Wanderungen auch in wenig erschlossene Gegenden. Bequeme, die sich als Stromlinienförmige oder ewige Revoluzzer häuslich gut eingerichtet haben, sparen denn auch satte 24 Euro. Eine erhebliche Skepsis, ob sich der westliche Otto Normalverbraucher vom Sofa rechtzeitig vor noch größeren Katastrophen erheben und als Bürger selbst ermächtigen möchte, die bleibt.
E. O. Wright: Reale Utopien, Suhrkamp, 24 €.

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