Aufbruch – Übergang – Wechsel

Dr. Reinhardt Gutsche

Unter dem zur Jahreszeit passenden Motto „Natur im Aufbruch“ präsentieren sich im Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge mit Vera Antipina, Viktor Bondartschuk, Leontina Kulko und Irina Weisel derzeit vier Mitglieder der Berliner Künstlergruppe KLIN. Zu sehen sind zumeist Stilleben zur aufblühenden Natur, aber auch Sujets, bei denen sich nur eher indirekt Assoziationen zu dem übergreifenden Thema herstellen lassen. Denn mit dem einschneidenden Erlebnis eines „Aufbruchs“ haben alle vier Künstler in besonderer Weise ihre Erfahrung gemacht, eine Erfahrung, die ihre jeweilige Biografie unterschiedlich intensiv geprägt hat. Sie stammen alle aus der früheren Sowjetunion und sind zumeist nach 1990 nach Deutschland „aufgebrochen“. Aufgebrochen sicher mit großen Erwartungen, Hoffnungen und vielleicht auch Bangen vor den Ungewissheiten und Unwägbarkeiten der neuen Lebensumstände, jedenfalls ein Leben hinter sich lassend, das nicht nur von materiellen Misslichkeiten und sonstigen Nötigungen geprägt sein mochte, sondern gewiss auch von glücklicher Kindheit, den Illusionen und Stürmen der Jugend und vor allem den unauslöschlichen Bildern der Heimat. Diese biografischen Besonderheiten sollte der Betrachter der hier präsentierten Bilder berücksichtigen. Sie sind auf die eine oder andere Weise unmerklich in sie gleichsam hineingewoben und lassen die sehnsuchtsbeladenen Emotionen beim Übergang in einen anderen, beglückenderen Gefühlszustand anklingen, während der vorangegangene, als bedrückend empfundene gerade bezwungen oder im Abklingen begriffen ist. „Aufbruch“, „Übergang“, „Wechsel“ – das sind Chiffren, die Gefühle der Unruhe, des dynamischen Drangs nach Veränderung, des Hoffens beschreiben. Insofern wollen die präsentierten Bildern in dieser Gruppenausstellung nicht nur als platte, vordergründige Themenillustration verstanden sein, sondern erheben durchaus zu Recht einen gewissen metaphorischen Anspruch auf weitergreifende Symbolik, eine Symbolik, die über eine das Thema nahelegende direkte Sujetgebundenheit hinausgeht.

Dem suggerierten übergreifenden Sujet „Natur im Aufbruch“ wohl am nächsten kommen mit ihren Stillleben noch Vera Antipina und Leontina Kulko. Vera Antipina, Absolventin der Moskauer Hochschule für Kunst und Design und eigentlich Produktdesignerin, arbeitet in unterschiedlichen Techniken, wie Öl, Acryl, Mischtechnik und Collage, bevorzugt jedoch neben dem Aquarell die Gouache, eine Technik, die die Vorzüge der lasierenden Aquarellfarbe mit denen der zähflüssig aufgetragenen Ölfarbe verknüpft. Die Gouache kann in dünnen oder auch dickeren Schichten vermalt werden. Dies kommt der Lust von Vera Antipina entgegen, mit Strukturen und plastischen Relief-Schichtungen im Farbauftrag zu experimentieren (z. B. das Bild „Im Quadrat“). Bei ihren Blumen-Stillleben fehlt auffallenderweise jegliche räumlich-perspektivische Bezogenheit. Sie wirken eher abstrakt-flächig, gleichsam außerhalb von Raum und Zeit. Dies scheint einer Grundbefindlichkeit der Künstlerin zu entsprechen: Sie fühle sich, so Vera Antipina, beim Malen „von Sorgen befreit“ und sei bestrebt, sich dabei voll den Wechselbädern ihrer Gefühle auszuliefern. Den Frühling in Deutschland findet sie übrigens wunderschön, im Gegensatz zu dem in Russland, den sie eher kalt und nass in Erinnerung hat.

Im Unterschied zu Vera Antipina verzichtet Leontina Kulko bei ihren Blumenstillleben keineswegs auf die räumliche Perspektive. Die Künstlerin stammt aus Kasachstan und hat an der Pädagogischen Hochschule der alten Hauptstadt Alma Ata Malerei und Grafik studiert. Ihre Bilder erinnern in ihrem betont kräftig-leuchtenden Farbauftrag an den Klassiker des französischen Impressionismus‘ Claude Monet und dessen Credo, dem Betrachter den Eindruck von Licht und Emotion zu vermitteln. Solche Arbeiten wie „Blütentanz“ und „Hoffnung“ offenbaren beim näheren Betrachten jedoch überraschenderweise auch eine leicht expressiv wirkende Spannung und Dynamik, die nicht so recht zu dem eher zu Beschaulichkeit und Kontemplation einladenden Sujet aufbrechender Frühlingslandschaft passen wollen. Es ist, als ob die Künstlerin damit selbstbewusst Zeichen setzen wollte, so etwas wie Kontrapunkte demonstrativer Schönheit einer Natur, die so vielen Gefährdungen durch eine verhängnisvolle zivilisatorische Entwicklung ausgesetzt ist. In diesem Sinne verstehen sich diese Bilder nicht nur als Chiffren für einen Aufbruch der Natur schlechthin, sondern vielleicht auch für einen Aufbruch in eine menschenfreundlichere Welt.Ebenfalls auch Kasachstan stammt Irina Weisel. An ihrer Ausbildung an einem Lehrerbildungsinstitut in Tscheljabinsk rühmt sie noch heute das solide Handwerk. Sie konnte dort auch solche Techniken wie die Glas- und Ikonenmalerei erlernen. Ihre menschenverlorenen Stadtlandschaften lassen zunächst die Frage aufkommen, wo denn hier, bitte schön, der Aufbruch der Natur bleibt. Sie verkörpern nachgerade eine Gegenwelt zu harmonisch-verträumter Naturbeschaulichkeit. Dazu muss man wissen, dass Irina Weisel aus einer grauen Industrielandschaft ohne große blühende Naturschönheiten stammt. Solche frühen Prägungen verschwinden nicht so einfach. Vor diesem biografischen Hintergrund gewinnt die Darstellungsweise ihrer Stadtlandschaften dann einen etwas anderen Aspekt: Schaut man nämlich genauer hin, dann schimmern unter den diffusen, nebulösen, schleierhaften Silhouetten Städtekonturen mediterraner oder mittelalterlicher Provenienz hervor. Kathedralenhaft ragen sie himmelwärts und wirken dabei wie Theaterkulissen eines geheimnisvollen, mystisch-entrückten, romantischen Spektakels. Sind dies womöglich Chiffren einer retrograden Sehnsucht nach einer versunkenen, anderen, heileren Welt, nach unvergänglicher Ewigkeit? Träfe diese Deutung zu, dann schlösse sich doch noch der Kreis zu dem gemeinsamen Sujetnenner dieser Ausstellung, dem Aufbruch: Denn auch die Sehnsucht mit der ihr innewohnenden Negation des Gegenwärtigen und der Überwindung womöglich bedrückender, unwirtlicher Verhältnisse ist letztlich auch ein Aspekt des Aufbrechens, und sei es in der künstlerischen Phantasie, des hoffnungsträchtigen Aufbrechens in einen anderen, neuen, besseren Lebenszustand.

Viktor Bondartschuk schließlich stammt aus der Ukraine und hat früher vor allem als Journalist und Repro-Fotograf gearbeitet. Daher wohl seine kreative Vielfalt, denn er betätigt sich nicht nur bild- sondern eben auch fotokünstlerisch und schriftstellerisch. Er ist der älteste der hier beteiligten Künstler und damit in einem Lebensabschnitt, in dem man wohl alle Aufbruchsversuche des Lebens eher schon hinter sich hat. Was ja nicht heißt, jede Freude an immer neu aufbrechender, belebender Natur verloren zu haben, wie ein Blick auf seine Arbeiten in dieser Ausstellung beweist. Sie heben sich mit ihrer ungewöhnlichen, entfernt an den Pointillismus erinnernden Technik des kräftigen Farbauftrags von den übrigen Arbeiten ab. Aber auch in ihrer etwas melancholischen Grundstimmung scheinen seine Landschaftssujets nicht ohne Nostalgie eher die Erinnerung an früher erlebte Aufbrüche zu assoziieren.

„Aufbruch“, „Übergang“, „Wechsel“ sind nicht nur auf den kalendarischen Wandel der Jahreszeit bezogen. Es sind Begriffe, die durchaus auch an und für diesen Ort von symbolischer Relevanz sind. Hier, in dem Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge, nimmt sich die ärztliche Kunst Menschen mit psychischen Erkrankungen an und will ihnen helfen, diese möglichst zu überwinden und sie von ihrem bedrückenden, bisweilen lähmenden Leidenszustand zu befreien. Ist dies nicht auch ein angestrebter „Aufbruch“ in eine neue, hellere und beglückendere Lebensphase, so wie der Aufbruch der Natur nach überstandenem Winter? Vielleicht kann den Patienten die Freude an den Bildern eine bescheidene Ermutigung dafür sein, wieder aufglimmendes Licht im Tunnel ihres Leidens zu sehen und Mut zu fassen für einen neuen Aufbruch in die Normalität des Lebens mit all seiner Rhythmik.

(„Natur im Aufbruch“ – Malerei und Grafik“ . Vera Antipina, Viktor Bondartschuk, Leontina Kulko, Irina Weisel. Caféteria des Evangelischen Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge, Herzbergstraße 79 10365 Berlin. Bis 16. Mai 2012 täglich von 9.00 - 18.00 Uhr)

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