Halbvoll

Ingo Knechtel

soll das Glas sein, glauben wir den Analysten des aktuellen Brexit-EU-Dramas. Natürlich lassen sich Negativ-Szenarien ohne Ende durchspielen. Aber der Monat Mai mit seinen Europawahlen ist schon ein für uns alle wichtiges Datum, mit dem wir uns vor Augen führen, wie es um die viel beschworene europäische Einigung steht und vor allem, wie es damit weitergehen soll. Viele waren skeptisch, haben nicht an einen Erfolg der EU-Erweiterung geglaubt. Viele zeigten zudem abwertend auf das Bürokratiemonster in Brüssel. Aber bei aller berechtigten Kritik ist es doch ein bemerkenswert positives Urteil, das gerade junge Menschen für gemeinsame europäische Projekte fällen. Und das stimmt optimistisch. Die britischen Politiker im altehrwürdigen House of Commons erscheinen hingegen wie aus der Zeit gefallen, im Traditionalismus alter Zeiten versunken. Auf europäischen Straßen hat die Politik neuen Schwung bekommen. Die Menschen gehen dorthin, jung und alt, und setzen sich ein für den Klimaschutz, gegen Mietenwahnsinn, für bessere Jobs. Für sie geht es um ihre Stadt, um ihr Land, um unser Europa und – kleiner haben wir es nicht – ums Überleben unserer Kinder und Enkelkinder. Gemeinsam mit unseren Partnern in Europa haben wir als Kulturring in den letzten Jahren spannende Projekte durchgeführt. Sprachbarrieren wurden spielerisch überwunden. Schulklassen tauschten selbst verfasste Videos aus, Lehrer erarbeiteten medienpädagogische Handreichungen. Und das Wichtigste: Es kam zu unzähligen Treffen überall in Europa. Der Prozess ist nicht aufzuhalten, viele junge Leute fühlen sich heute überall in Europa zu Hause. Auch wenn Unterschiede und Probleme, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt, durchaus einen kritischen Blick und neue Ansätze erfordern, so ist doch die Sicht auf das neue Europa der EU eine positive. Vergessen wir dabei nicht etwas sehr Wichtiges: Das Streben nach Gemeinsamkeiten, das Leben gemeinsamer Ansichten und Werte haben über Jahre Voreingenommenheiten, Ängste und nationale Beschränktheiten abgebaut, haben aus Unbekannten, aus Gegnern, ja Feinden, schließlich Freunde und Partner gemacht. Wer wie ich gerade eine Woche in Kroatien zu Besuch war weiß, wie schwer, aber zugleich wie wichtig dies im Anblick auch der jüngeren Vergangenheit ist. Dieses Europa der gemeinsamen Werte und des Friedens muss noch größer werden. Dafür lässt sich sogar ertragen, dass uns die Lidls, Aldis und Kauflands überallhin verfolgen. Eine Festung soll Europa aber nicht sein, sondern weltoffen und demokratisch. Dies ist doch ein Ziel, für das es sich lohnt, am 26. Mai zur Wahl zu gehen.

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