Zuhause!

Carsten Cremer, Sebastian Wagner

Am Anfang war die Projektidee. Es sollte ein Buch über die Lebenswelten von Jugendlichen und ihre ganz eigene Sicht auf ihr Lebensumfeld im Heinrich-Heine-Viertel in Berlins Mitte werden. Ein Viertel, in dem nur langsam die Spuren der deutschen Teilung verwischen, die Lücken sich schließen im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Kreuzberg und Mitte.

Als Kooperationspartner wurden der Kinder- und Jugendklub Ottokar und die Evangelische Schule Berlin-Zentrum gewonnen. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schule stammen nicht aus dem Heine-Viertel, sie kommen morgens an und fahren am Nachmittag wieder weg. Für sie ist das Gebiet hauptsächlich ein Durchgangsbezirk. Obwohl sie den größten Teil des Tags hier verbringen, wissen sie wenig von den Menschen im Viertel. Warum auch? Trotzdem machen sich die Schülerinnen und Schüler auf. Sie fotografieren die umliegenden Gebäude, diskutieren die Ergebnisse. In der Rasterarchitektur der DDR-Bauten finden sie nach und nach Gestaltungselemente für ihr Buch, Experten unterstützen bei Satzspiegel und Gestaltung der Doppelseiten. Einige schreiben Horrormeldungen und fragen sich, wer hier eigentlich wohnt. Warum sich niemand kümmert, fragen andere. Sie sagen, sie wollen hier nicht leben.

Die Kinder und Jugendlichen aus dem Ottokar leben im Kiez, sie kennen hier jede Ecke, alles hier ist ihnen vertraut. Sicher können sie die Sicht der Schüler nicht immer verstehen.

So bringen beide Gruppen ihre verschiedenen Blickwinkel auf das Viertel in das Projekt ein. Da gab es schon mal in den Gesprächen intensive Auseinandersetzungen. Im Ergebnis ist ein Bilderbuch über das Heinrich-Heine-Viertel entstanden. Aber vor dem lohnens- und lobenswerten Ergebnis lag Mühe und Arbeit. Über einfaches handwerkliches Tun und komplexere Arbeitsvorgänge sollte an lösungsorientiertes Denken herangeführt werden, die Stärkung der Kreativität und des Selbstvertrauens bei den jungen Leuten waren als Ergebnis erwünscht.

Da war das angestrebte Projektziel, den Teilnehmer_innen einen Einblick in die Medienproduktion zu geben und ihnen zu ermöglichen, die eigene Kreativität im Bereich Druck umzusetzen. Da wurde gezeigt und berichtet, was grafische Gestaltung bedeutet, wie man fotografiert, die Bildmotive wurden ausgewählt und besprochen, danach erfolgte die Bildvorbereitung für den Siebdruck, d.h. es ging um den Druck von Bildmotiven als Postkarten im Siebdruck, die Einführung in die Grundsätze von Layout und Seiten-Gestaltung, Illustrationstag, die Erstellung des Layouts für das Buch. Zu guter Letzt wurde noch eine Druckerei besucht.

Nachhaltig sollte das Projektergebnis sein, wie stellt man so etwas fest?

Am besten man fragt die Beteiligten, und die haben die Arbeit an dem Buch als Bereicherung empfunden. Vor allem das Drucken der eigenen Fotografien hat den Teilnehmer_innen viel Spaß bereitet. Sie zeigten großes Interesse an Medien und ihrer Herstellung. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „eigene Nachbarschaft” und den neuen Möglichkeiten sich auszudrücken, war ein spannender Prozess, der auf einfache Weise die Teilnehmer_innen an ergebnisorientiertes Denken und Arbeiten heranführte. Komplexe Vorgänge wurden in einzelne Schritte zerlegt und dadurch verständlicher. Da das Medium und die Technik bei den Kids so gut Anklang fanden, suchen beide Projektleiter gerade aktiv nach einer Möglichkeit, eine weitere Förderung für einen Plakatworkshop in Kooperation mit Einrichtungen im Kiez zu finden.Doch nun zum Buch und seinem Kontext, da heißt es im Vorwort: „Im Jahr 1958 beginnt die DDR mit dem Bau von mehr als 10.000 Standardwohnungen entlang der heutigen Heinrich-Heine-Straße in Berlin. Die Straße bekommt ihr typisches Gesicht, die anonyme Fassade eines Durchgangsbezirks. Mitten in der Stadt. Heute, über 50 Jahre später, sind die beiden Bezirke Mitte und Kreuzberg immer noch nicht zusammen gewachsen. Der Grenzbereich liegt weitgehend brach, der Grenzstreifen ist noch deutlich zu erkennen.“ Das Heinrich-Heine-Viertel ist im Stadtplan der meisten Berliner nicht vorhanden. Es liegt im toten Winkel. Ein blinder Fleck im Zentrum Berlins, geprägt durch Unterschiede: Anonyme Plattenbauten und Partyszene, günstiger Wohnraum, arme Familien, Botschaften und Agenturen. Kleine Gassen und Trampelpfade führen hinter die Fassaden. Und dort, hinter den Plattenbauten, zeigt sich eine andere Wirklichkeit: Das Wohngebiet ist weitgehend verkehrsfrei, es hat den Charakter einer Gartenstadt. Und hier, eingerahmt von Großblockbauten des Typs P2, liegt in der Schmidstraße 8 der Kinderverein Ottokar e.V. Die Kinder des Vereins wohnen in der Nachbarschaft. Oft kommen sie gleich nach der Schule hierher. Sie gehen selten über die Grenzen ihrer Nachbarschaft hinaus. Sie sind die Experten dieses Stadtteils. Ebenfalls im Gebiet, in der Wallstraße 32, liegt die Evangelische Schule Berlin Zentrum. Die meisten Schülerinnen und Schüler wohnen nicht im Stadtteil. Die Jugendlichen des Wahlpflichtkurses Kunst 10. Klasse kommen größtenteils aus Mitte und Prenzlauer Berg. Sie kennen das Gebiet rund um ihre Schule kaum, sie kommen mit der U-Bahn und fahren auch wieder weg. Sie fragen sich, warum niemand den Müll entfernt, weshalb sich niemand verantwortlich fühlt, weshalb die tote Taube seit Tagen auf der Wiese liegt. Die Architektur bereitet ihnen Unwohlsein. Während des Projekts beginnt die Klasse trotzdem damit, Menschen auf der Straße zu porträtieren, sie stellt Fragen, druckt Siebdruck-Postkarten.

Darüber hinaus bittet die Klasse die Kinder von Ottokar, die Grenzen ihres Gebiets mit Einwegkameras festzuhalten. Auf einmal sehen die Kinder von Ottokar überall Grenzen: Zwischen innen und außen, zwischen Familie und Freizeit, zwischen den unterschiedlichsten Lebenswelten, die im Heinrich-Heine-Viertel aufeinander treffen. Zwischen Armut, Drogenhandel und geschützten Räumen. Der ehemalige Mauerstreifen ist eine Grenze, das Engelbecken und der Schweineladen, in den sie nicht gehen, sind auch Grenzen. Im Kinderzimmer sind Grenzen zwischen der rechten und der linken Seite, sie unterscheiden zwischen räumlichen und geistigen Grenzen. Die Kamera ist immer dabei.

Diese Publikation zeigt die Fotos der Kinder vom Kinderzentrum Ottokar. Der Wahlpflichtkurs Kunst hat die Fotos in einen neuen Kontext gesetzt, durch eigene Fotos ergänzt, die Doppelseiten gestaltet und Texte geschrieben. Durch das Zusammenbringen der jeweiligen Perspektiven entstehen neue Differenzierungen. Und ein neuer blinder Fleck.

Dieses Buch entstand im Rahmen des Projekts „Wie kommt das Bild ins Buch?“, gefördert mit Mitteln des Programms LSK (Lokales Soziales Kapital) 2011.“

Als Ergebnis ist nicht nur das Buch entstanden, sondern zusätzlich noch zwei Postkartenserien, ein Plakat und ein Flyer. Das Buch kann man sich ansehen. Einfach eine Mail an an info@bureau11.de schicken und einen Termin mit den Initiatoren vereinbaren.

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