Herzenssache

Ingo Knechtel

„Mit Herz und Verstand – die soziale Marktwirtschaft“ – das war der Spruch, den ein christlich-soziales Lebkuchenherz auf dem Münchener Kirchentag 2010 schmückte. Mit dem Herzen dabei sein sollten die tanzenden und singenden jungen Leute zu gar manchem Pfingst- oder Deutschlandtreffen. Fragt man jene, die dabei waren bei solchen Mega-Events, hört man häufig: Ja, das war ein tolles Erlebnis, oder in Neu-Deutsch: Das war echt geil. Vieles wurde geboten, Freundschaften sind entstanden, (Liebes-)Hormone schlugen Purzelbäume. Die Regierenden indes bezogen diese Zuneigung mitunter auch auf sich: Das Herz der Jugend schlägt für ...

Der Spruch aus der Bergpredigt „da wird auch dein Herz sein“ war dann vielleicht auch ein passender für den gerade in Dresden zu Ende gegangenen evangelischen Kirchentag. Bei der Vielfalt dessen, was zu sehen und zu hören war, fiel es nicht leicht (oder aber ganz schwer), einen Platz für sein Herz zu finden. Und ja, auf dem Kirchentag wird geworben: und zwar um nichts Geringeres als die Herzen der Menschen. Da gibt es dann auch mal höfliche Meinungsstreits, es wird debattiert über Gott und die Welt – und dabei auch über die Rolle der Kirche in diesem Spektrum. Das schlug manchmal richtig Wellen, so dass die Fahrgäste der Straßenbahnlinien 10 und 20 am Samstag Vormittag intensiv per Lautsprecherdurchsage vor dem Besuch einer wegen totaler Überfüllung geschlossenen Veranstaltung auf dem Messegelände gewarnt wurden und sich bitte eine andere Veranstaltung aussuchen sollten – und das früh um 9 Uhr. Die morgendliche Bibelarbeit mit Joachim Gauck war aber sicher nur ein Höhepunkt. Wohl selten sah man so viele Menschen auf einem Kirchentag wie in Dresden. Sicher mag das auch am Zauber der Elbmetropole gelegen haben. Die Stadt mit ihrer Geschichte, mit Zwinger, Frauenkirche, mit Museen und Kunstwerken, mit Semperoper und einer Elbkulisse zum Verlieben war und ist Inspiration für Besucher aus Nah und Fern. Viele haben vielleicht immer noch einen Koffer in Berlin, aber ihr Herz doch eher in Dresden.

Um es vorweg zu nehmen: ohne die unglaubliche Gastfreundschaft der Dresdner, die unzähligen Privatquartiere, die Überstunden und – ja – auch die Toleranz z.B. angesichts der chaotischen Zustände in den Straßenbahnen wäre ein solches Ereignis nicht so entspannt über die Bühne gegangen.

Bühnen waren am (Eröffnungs-)Abend der Begegnungen überall in der Alt- und Neustadt verteilt, die Brühlschen Terrassen wurden zentral beschallt. Aber Bühnen wären gar nicht nötig gewesen. Kultur-, Kunst- und andere Genüsse gab es fast an jeder Ecke. Es rappte und rockte, es posaunte und geigte – sogar Alphörner bliesen an der Elbe. Die sächsischen Kirchengemeinden boten unzählige Stände mit leckeren Speisen und konnten den Andrang kaum bewältigen. Museen, Kirchen, Kulturstätten – alle hatten ihre Türen weit geöffnet. Viel Spontanes war zu erleben. Akustikrock auf klassischen Instrumenten von einer Band mit dem Namen Stilbruch begeisterte viele mit mehreren Straßenkonzerten, auch dann noch, als auf den offiziellen Bühnen schon die Lichter ausgeknipst wurden. Gern mischte sich bei all dem auch Bundespräsident Christian Wulff unters Volk und wurde vor einer Bühne in der Neustadt – professionell abgeschirmt von wachem Sicherheitspersonal – beim religiösem Poprock begrüßt.

Und dann war da noch das Messegelände. In Wirklichkeit gerade mal im Begriff, ein solches zu werden, war es viel zu klein für die Besucher und Teilnehmer. Die Organisatoren behalfen sich mit Großzelten – was dazu führte, dass Vieles weitläufiger und vor allem bei den sommerlichen Hitzegraden schwieriger zu bewältigen war. Die Straßenbahn-Anbindung war Tage zuvor fertiggestellt worden und hatte ihre Feuertaufe zu bestehen. Die Tram-Fahrer behielten die Ruhe und verkündeten das eine aufs andere Mal in freundlichem Sächsisch: „Wir sind leider voll – hier gommse nich meehr rein.“

Der Kulturring zeigte sich mit seinem Stand in einem Großzelt im Rahmen des Markts der Möglichkeiten. Schweißtreibend für die Standbesatzung war neben den hohen Temperaturen auch der Andrang von interessierten Besuchern. Unter dem Motto „Kultur für jede(n) – kreativ, sozial, konkret“ bot der Verein einen Einblick in seine Projekte. Und es gab die Chance des kreativen Mitmachens. Vorgestellt wurde z.B. die Offene Kreativwerkstatt aus Treptow. Mit ihr soll alleinstehenden Müttern sowie langzeitarbeitslosen Frauen eine Möglichkeit geboten werden, den (Wieder-)Einstieg in das Berufsleben zu erreichen. Unter fachlicher Anleitung sollen sie in Handarbeitstechniken (Nähen, Stricken, Zuschnitt, Maschinennähen) geschult werden und gleichzeitig anderen Müttern Hilfe zur Selbsthilfe leisten, z. B. wenn diese für ihre Kinder Kleidung reparieren oder neu anfertigen möchten. Dabei spielt die kreativ-künstlerische Ausrichtung der Vermittlung von Handarbeitstechniken eine besondere Rolle (Filzen, Weben, Häkeln). Am zweiten Markttag stand für die Kulturring-Besucher die japanische Papierfaltkunst des Origami im Mittelpunkt. Jeder konnte mit kreativer Anleitung von Kursleiterin Tatjana Kan Tiere, Vögel u.a. Figuren falten lernen. Als Höhepunkt gab es am dritten Tag die Möglichkeit, eigene Druckgrafik mit Maja Feustel zu gestalten und auf einer transportablen Druckpresse vor Ort herzustellen. So wie die Kurse des Kulturrings im Studio Bildende Kunst für jede(n) offen stehen, konnte auch am Stand jede(r) ihr/sein kreatives Potenzial ausschöpfen. Gespannte und freudige Blicke waren das Dankeschön, denn was gibt es schöneres als etwas selbst Gestaltetes vom Kirchentag mit nach Hause zu bringen?

Bilanziert man die Tage von Dresden, liegt in der Vielfalt des Erlebten die eigentliche Bereicherung. Damit ist dann sicher nicht der an die Massen von einer Teilnehmergruppe verteilte, batteriebetriebene, herzklopfende „I Love Jesus“- Button gemeint, der letztlich zum Entsorgungsproblem wurde. Und sicher wird es dem Kirchentag auch nicht gerecht, wenn man seine Buntheit – wie die Berliner Zeitung – abqualifiziert: „Bunt ist beliebt, bunt ist unverbindlich.“ Es bleibt unterm Strich vielmehr die Ermutigung, dass sich viele Menschen mit ihrem Engagement einmischen und eine bessere Gesellschaft aufbauen wollen. Sie wollen dies oft auf kreative Weise tun, sie wollen dabei auch die Freude des eigenen Tuns erleben. Gott sei Dank rutscht ihnen dabei das Herz nicht in die Hosentasche, sondern lässt sie mit Vernunft und Gefühl die richtige Entscheidung treffen. Und dafür sorgen, dass sie vielleicht sehr bunt, aber in jedem Fall verbindlich ist.

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