Die Geschichte der Frau ...

Thomas Hein

Die Geschichte der Frau... ist ein Einblick in die Arbeit des Projektes „Frauenbiografien in Reinickendorf“, welches vor nunmehr 2 Jahren im Rahmen des Berliner Öffentlichen Beschäftigungssektors seinen Anfang fand. Es wurden viele Seniorinnen nach ihren Lebensgeschichten befragt. Es in angedacht, 12 dieser Geschichten zu veröffentlichen. Hier ist für unsere Leser eine davon. Sie handelt von Frau Irmgard Freund geborene Gebheim, geb. am 7.10.1920 in der Soldiner Strasse 72/74, und wurde aufgeschrieben von Thomas Hein.

„Meine Mutter, mein Vater und ich lebten in einer Einzimmerwohnung, in der ich auch geboren wurde. Die Wohnverhältnisse waren sehr einfach. Die Kindheitserinnerungen an meinen Vater waren nicht gut. Es war die Hölle für mich. Er tyrannisierte uns beide, bis hin zu Schlägen. Vor Angst machte ich mir öfter in die Hosen. Die Ehe wurde 1925 geschieden, was für meine Mutter und mich wie eine Befreiung war.

Eingeschult wurde ich 1926 in der Zechliner Straße. Bei meinem täglichen Schulweg wurde ich von zwei Bernhardinern begleitet, die unseren Nachbarn gehörten. Den Weg fanden die beiden Hunde alleine zurück. Meine schulischen Leistungen waren gut, besonders in Deutsch, welches mein Lieblingsfach war; dort konnte ich glänzen. In den Pausen tobte ich mit den Jungen und kletterte oft auf den Bäumen herum. Einem meiner Lehrer, den ich nicht so mochte, schmiss ich in der Winterzeit einen Schneeball an den Kopf. Bei meinen Mitschülern bekam ich große Anerkennung, zur Strafe musste ich Nachsitzen.

Nach dem Ende meiner Schulzeit schenkte mir die Deutschlehrerin drei Bände von Johann Wolfgang von Goethe, die ich noch heute besitze. Darüber freute ich mich riesig, und das machte mich sehr stolz.

1932 trat ich in den Schwarzmeierchen Kinderchor ein. Dieser war sehr berühmt, man kannte uns sogar in Amerika. In den Sommerferien traten wir jeden zweiten Tag in einer anderen Stadt auf, z. B. in Dessau, Bernburg, Staßfurt, Eisleben, Eisenach, Würzburg und Bamberg. Bei den Gastfamilien - besonders in Bernburg - habe ich mich sehr wohl gefühlt. Diese Familie hatte mehrere Affen und eine Dohle. Da ich sehr tierlieb bin, habe ich mit den Tieren gespielt. Eines morgens beim Frühstück saß die Dohle auf meiner Schulter und machte mir einen kleinen Klacks auf mein Leinenkostüm. Die Familie lud meine Mutter und mich in den Herbstferien noch einmal ein und schickte uns das Geld für die Fahrkarten.

Wir bekamen eine Anfrage vom Filmstudio Babelsberg, ob wir für den Film „So endete eine Liebe“ das Tedeum einstudieren können. Die Hauptdarsteller in den Film waren Paula Wessely, die Mutter von Christiane Hörbiger und Willi Forst (damals zwei ganz bekannte Schauspieler). Wir probten acht Tage lang, bis der Regisseur zufrieden war. Zwei Chormädchen und mich nahm der Regisseur am nächsten Tag mit ins Studio Babelsberg, wo wir noch eine Statistenrolle bekamen. Ich trug eine Schale voller Obst, die ich den Gästen anbieten sollte. Das war toll. Nachdem ich geschminkt und zurechtgemacht war, fühlte ich mich wie eine kleine Diva. Für die kleine Filmrolle bekam ich 8 RM.

Leider wurde der Kinderchor 1935 aufgelöst, weil Herr Schwarzmeier ein Jude war.

1935 machte ich eine Lehre als kaufmännische Angestellte bei der Firma Pankgraf Oskar Beier in der Wollankstrasse 73. In der sehr umfangreichen Ausbildung im Radio- und Elektrogroßhandel, die mir sehr viel Spaß machte, lernte ich vom Einkauf über Buchhaltung bis hin zum Mahnwesen alles von der Pike auf. So eignete ich mir ein fundiertes Wissen über die Geschäfte eines Groß- und Einzelhandelskaufmanns an. Und so kam es, dass ich 1938 nach meiner erfolgreich abgeschlossenen Lehre mit 17 Jahren Geschäftsführerin wurde. Viele Kunden kamen in unsere Filiale. Einige grüßten mit erhobenen Händen, dem Hitler-Gruß. Ich antwortete „nur“ mit Guten Tag, was glücklicherweise ohne Folgen blieb.

Mit 16 Jahren lernte ich meinen späteren Mann Paul noch einmal richtig kennen. Paul kannte ich schon seit meiner Kindheit. Er wohnte auch in der Soldiner Strasse 72/74. Aus dem Kennenlernen wurde Liebe, aus der Liebe wurde 1942 eine Kriegshochzeit. In der Stephanus-Kirche fand die Kriegstrauung statt, bei der wir vor Kälte zitterten und meine Rosen abfroren. Nach acht Tagen Sonderurlaub ging mein Mann nach Swinemünde zur Ausbildung zum Soldaten, bevor er in Afrika unter Rommel diente. Im Jahr 1943 wurde unsere Tochter Renate geboren.

Paul bekam 1936 als Bonus zum Abschluss seiner Lehre als Maschinenschlosser eine dreitägige Schiffsreise geschenkt. Die Fahrt ging von Hamburg nach England. Das Schiff Namens „Robert Ley“ war riesig. Wir fanden unsere Kabine nur mit Hilfe des Personals. Hier gab es einfach alles: Essen, Trinken, Wellness, es war der pure Luxus für uns. Leider konnte die Fahrt nach England nicht durchgeführt werden, weil Seeminen sie verhinderten. So blieben wir in der Nordsee im deutschen Hoheitsgebiet.

Im Jahr 1943, als die Bombardierungen täglich schlimmer wurden, flüchtete ich mit meiner sechs Wochen alten Tochter zu meinen Verwandten nach Schlesien, Zillerthal-Erdmannsdorf bei Hirschberg. Hier konnten wir durchschlafen, und an Hunger mussten wir nicht leiden. Vom Kochen hatte ich keinerlei Kenntnisse, ich habe es aber mit Grießbrei für uns versucht. Da ich das ganze Paket in die Milch schüttete, quoll der Brei so stark, dass wir mehrere Tage davon essen konnten.

Anfang 1945 mussten wir innerhalb von drei Tagen fluchtartig Schlesien verlassen. Es war furchtbar, das ganze Hab und Gut mussten wir im Stich lassen. Nun ging es von Schlesien nach Olbersdorf bei Zittau. Bei den Bauern bettelte ich um etwas Essbares, da es auf Vorlage der Lebensmittelkarten nur sehr wenig gab. Im Dunkeln bin ich auf die Felder gegangen, um Kartoffeln auszubuddeln.

Beim Einmarsch waren die Russen anfangs freundlich und schenkten den Kindern Schokolade. Die Nachhut war weniger freundlich. Wir hatten Angst vor Vergewaltigungen und Misshandlungen. Die Russen beschlagnahmten die Kühe des Dorfes. Wir Frauen von Olbersdorf wurden aufgefordert, jeden morgen zum Melken zu kommen.

1946 musste man zurück nach Berlin, um nicht das Heimrecht zu verlieren. Es fuhren kaum Güterzüge, und Hunderte warteten tagelang am Bahnhof. Ich hatte genügend Proviant dabei und konnte einer Frau mit drei Kindern etwas abgeben. Endlich hielt für einen kurzen Moment ein Güterzug an. Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Meine kranke Tochter, sie hatte Durchfall, gab ich einer Frau die aus dem Zug die Hände runtergestreckt hatte. Für mich fand sich auch noch ein Platz, und wir konnten eine sieben Stunden lange Horrorfahrt nach Berlin antreten. Zum Glück war unsere Wohnung von den Bombardierungen der Alliierten verschont geblieben, so dass wir wieder einziehen konnten.

Mein Mann kam nach vierjähriger Gefangenschaft, drei Jahre in Amerika und ein Jahr in England, gesund nach Hause zurück und konnte endlich seine Tochter, die inzwischen 3 1/2 Jahre jung war, in die Arme nehmen. Leider hatte sich die Versorgung mit Lebensmitteln so verschlechtert, dass regelmäßige Hamsterfahrten zu den Bauern erfolgten. Die Züge waren so überfüllt, dass man teilweise auf Trittbrettern oder Puffern mitfahren musste. Die Rückfahrt war noch schlimmer. Man musste mit dem vollen Rucksack und den Taschen auf Schleichwegen kilometerweit laufen, um den Kontrollen zu entgehen. Da die Abteile immer überfüllt waren, stellte ich einmal einem Mann meinen schweren Rucksack auf den Kopf um Platz zu bekommen. In Berlin entwickelte sich der Schwarze Markt, wo jeder versuchte, auf dem Tauschweg etwas Butter, Schokolade, Kaffee oder Zigaretten zu ergattern. Auch hier fanden Razzien statt, wo man hoffte, nicht erwischt zu werden. Später normalisierten sich die Lebensverhältnisse, und wir kauften uns einen VW Käfer, mit dem wir unsere erste gemeinsame Urlaubsreise in den Harz/Osterrode unternahmen. Endlich hatte man wieder Freude am Leben.“

Frau Freund habe ich als eine für ihr Alter vitale, liebenswürdige Frau kennen gelernt. Sie erinnert sich gerne an die 30 jährige Zugehörigkeit zum Kammer-Chor Wedding. Heute singt sie im Chor der evangelischen Gemeinde, geht regelmäßig schwimmen, löst Sudoku und kümmert sich um ihre Katze. Halt bekommt sie von ihrer Familie, insbesondere durch ihre Tochter Renate.

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