Ein Abenteuer mit offenem Ausgang

Gisela Schunk

Als sich mir Ende 2008 die Möglichkeit bot, am Projekt Frauenbiographien des Kulturringes mitzuarbeiten, habe ich sofort zugesagt. Hatte ich doch gerade meine Beschäftigung mit der Lebensgeschichte der Charlotte von Mahlsdorf für das Buch zur Ausstellung „Verzaubert in Nord-Ost“ beendet, ein Initiativvorhaben des Sonntags-Clubs. Für das Frauenprojekt lag nahe, zuerst eine der ältesten Seniorinnen des Bezirkes um Mitarbeit zu bitten: Bereits 2007, als ich für den Kulturring in Zusammenarbeit mit der „Alten Bäckerei“ an einer Dokumentation zum 150-jährigen Bestehen des Pankower Wochenmarktes arbeitete, hatte ich Martha Hartmann, Jahrgang 1913, kennen gelernt. In ihrem 19. Lebensjahr war die in Schlesien Geborene als Mädchen für Haushalt und Geschäft zur Familie Hartmann nach Pankow gekommen. Diese betrieb seit 1875 auf dem Grundstück Wollankstraße 130 eine gut gehende Bäckerei. 1939 heirateten Hausmädchen und Bäckerssohn Karl, um 1947 das Geschäft in der Wollankstraße in dritter Generation weiterzuführen. Martha Hartmann war mir stets eine aufgeschlossene, geduldige Gesprächspartnerin. Ihre erfrischende und unkonventionelle Art hat mich immer wieder überrascht. Sie, körperlich eher klein und zierlich, in ihrem Wesen jedoch resolut, ist bescheiden und großzügig zugleich. Immer freundlich und gesprächsbereit, mit gutem Erinnerungsvermögen und am Gegenüber interessiert. So gab sie mir ein von ihr erprobtes Lebensmotto für meinen einundzwanzigjährigen Sohn mit auf den Weg: „Lasst Streit nie über Nacht!“

Nach der Geschichte einer Handwerkerfamilie wandte ich mich einer „leidenschaftlichen Pankowerin“ zu, die vielen Ortsansässigen als couragierte und streitbare Lokalpatriotin bekannt ist: Waltraud Winkler. 1928 in Leipzig geboren, kam sie zehnjährig zu einer Pflegemutter nach Pankow, die sie nicht nur musisch prägte, sondern als „echte Preußin“ auch auf Etikette achtete. Winkler hat sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit über das Rentenalter hinaus und ihrem vielfältigen Engagement auf kultureller Ebene im Bezirk den Titel „Seniorin im Unruhestand“ verdient. Ihr ungebrochener Tatendrang und ihr Wille, Missstände zu beseitigen, haben mich nachhaltig beeindruckt.

Für meine weitere Arbeit nahm ich Kontakt zu Hella Schermer-Grünberg (Jahrgang 1924) auf, die Tochter des in Pankow geborenen Mitbegründers des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Karl Grünberg. Jene überraschte mich mit der Aufzeichnung ihrer eigenen Lebensgeschichte, die aufs engste mit der Biographie ihres Vaters verbunden ist. Diese autobiographische Niederschrift, mit der sie die von Kindesbeinen an miterlebten gesellschaftlichen Veränderungen im Bezirk als Zeitzeugin festgehalten hat, sprengte sowohl vom Umfang her, als auch inhaltlich – durch eingefügte Kapitel aus der Feder des Vaters – die Möglichkeiten des Vorhabens. Mit einiger Beharrlichkeit gelang es, die Projektleitung vom Informationswert der Aufzeichnungen für die Chronik von Pankow zu überzeugen. Durch Absprachen mit der Akademie der Künste konnten die Druckkosten getragen und damit das Buchprojekt realisiert werden. Am 18. November wurde nun im festlichen Rahmen im Brose-Haus die Broschüre „Zu meiner Zeit – seiner Zeit“ präsentiert. Sie erscheint in der Reihe „Erlebte Geschichte“ des Kulturrings, in der auch schon die Geschichte des Kulturbunds in Pankow 1945-1990 „...liberaler, lockerer, kreativer...“ an Hand von Zeitzeugenschilderungen dargestellt wurde.

Nach diesen sehr unterschiedlichen Lebensverläufen bot sich mir die Möglichkeit, mich einem historischen Frauenschicksal zuzuwenden: Wilhelmine Hensel (1802-1893), geboren in Linum in der Mark Brandenburg. Diese hat als Dichterin ihren Lebensentwurf offenbart und als Vorsteherin des Pankower Elisabethstiftes (Waisenhaus) von 1851 bis 1876 gewirkt. Erste Arbeitsergebnisse, aufgearbeitet aus dem Nachlassbestand des Stiftes, das 1904 seinen Standort von Pankow nach Hermsdorf verlegte, werden in einer kleinen Ausstellung in der „Alten Bäckerei“ gezeigt. Die Ausstellung wurde am 11. September zum Fest an der Panke und Tag des offenen Denkmals eröffnet, zugleich Geburtstag von Wilhelmine Hensel. Weitere Forschungsergebnisse, denen die Sichtung der Berliner Archive und Spezialliteratur zugrunde liegen, befinden sich im Moment in der Aufarbeitung für eine Dokumentation.

Während die Gespräche mit den Seniorinnen vom Respekt vor der Lebensleistung ausgingen und Einfühlungsvermögen für drei so ganz verschiedenartige Charaktere forderten, folgt die Suche nach Spuren, die eine historische Person hinterlassen hat, anderen Bedingungen. Im ersten Arbeitsschritt ist viel „Fahndungsarbeit“ angesagt, die immer dann besonders belohnt wird, wenn das einer Akte vorangestellte Benutzerverzeichnis noch leer ist. Das Ganze gleicht einem Abenteuer mit offenem Ausgang. Am Schluss steht der Versuch einer Annäherung an ein „gelebtes Leben“.

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