Heimarbeit

Ingrid Landmesser

In einem Pflegeheim am Prenzlauer Berg begegnen sich Bewohner der Wohnbereiche „Kurzzeitpflege“, „Mittagssonne“, „Abendfrieden“, „Blumengarten“ und „Regenbogen“ einmal im Monat zu „hausgemachtem Kintopp“. Mitwirkende sind sie selbst. Das Projekt des Kulturrings erfreut sich bei Bewohnern und Mitarbeitern wachsender Beliebtheit. Gegenseitiger Respekt, Akzeptanz und Anerkennung sind die Grundlage des Erfolgs. Das vergnügliche Mitmachen im Bemühen um mehr Selbstvertrauen fördert die Kommunikation im Heim.

Diese Filmarbeit im St. Elisabeth-Stift ist meine Art des Sich-Kümmerns um die Menschen. Ich habe das Filmemachen in Babelsberg studiert. Meine Partnerin im Stift ist die Ergotherapeutin Manuela Jähnert. Im Interview hat sie mir folgende Stichworte über ihre Qualifikation geliefert: „Ich bin examinierte Ergotherapeutin mit sechs Semestern in Krankheitslehre, Onkologie, Rheumatologie, Psychologie, Psychiatrie, motorisch-funktionelle Bewegungsformen, Gerontopsychiatrie mit dem großen Bereich der Demenz, Entwicklung von Spielen mit Anleitung und kreative Tätigkeiten.“ Es sind die besten Voraussetzungen, um gemeinsam in „Heimarbeit“ bei den Bewohnern Blickfelder zu erweitern, geistige und soziale Fähigkeiten zu fördern und zu stabilisieren oder einfach „nur“ menschliche Zuwendung in Gegenseitigkeit spüren zu lassen.

„Brücken zwischen alt und jung“ war als Thema für den „Oktober-Film“ geplant. Gymnastik mit den Kindern der Elias-Kita hatte ich mit der Kamera begleitet und wieder einmal erfahren: Was für Erwachsene problematisch ist, ist für Kinder völlig unkompliziert. Man nimmt sich gegenseitig einfach so, wie man ist. Und wie so oft war die kürzeste Brücke zwischen Alt und Jung das gemeinsame Singen. Gespannt war ich auf die zwei Tage unter dem Motto „Kreative Gestaltung“ mit den Altenpflegeschülern und den Senioren aus dem Haus. Was bewegt junge Leute, sich solch einen anstrengenden, schlecht bezahlten Beruf mit so viel Verantwortung auszusuchen?

Um die Jugendlichen von dem bereits eineinhalb Jahre laufenden filmischen Langzeitprojekt zu überzeugen, zeigte ich ihnen den Film über „Wunderbar wunderliche Menschen im St.-Elisabeth-Stift“. Der Film begleitet den Pflegehelfer Thorsten Laninger von seiner Haustür auf dem Weg zur Arbeit. Der inzwischen in der Pflege hoch engagierte junge Mann war früher ein „Hallodri“ in der „new economy“. Er suchte eine Neuorientierung und überlegte, ob er sich in der Alterspflege „Situationen, in die er geraten würde, Dingen, die er sehen wird“, stellen kann. Jetzt ist er bereits fünf Jahre als sehr engagierter und beliebter Pflegehelfer in der Diakonie tätig. Auch zeigt der Film einen Morgen mit dem Wohnbereichsleiter Thomas Horn, der mit Ärztin Dr. Bohm zu Patienten eilt und trotz der täglich im Stift zurückgelegten beträchtlichen Strecken noch 10-Kilometer-Läufe als Ausgleich in der Freizeit absolviert.

In der Veranstaltung mit den Auszubildenden und den Heimbewohnern geht es ums Farbenmischen, Herbstblätter-Nachzeichnen, Ausschneiden, Stempeln, Kleben: zwei Stunden „Individualbetreuung“ und gemeinsames kreatives Gestalten, bei dem sich Jung und Alt näher kommen sollen.

„Ich mach gar nüscht mehr“, verkündet Grete Bückner lautstark mit ostpreußischem Akzent und legt demonstrativ ihre Hände in den Schoß. „Ich hab jenuch jearbeitet in meinem Leben.“ Keine zwei Minuten Später tuschelt und kichert sie mit ihrer jungen „Betreuung“. Vielleicht erzählt sie ihr, wie es früher war.

Gretchen hat seit 1940 hier im Stift gearbeitet als „Mädchen für alles“, wie sie mir in einem Interview bereitwillig erzählte. „...für 50 Mark im Monat, nich wo möglich am Tach. Wir mussten Tach und Nacht auf sein, war ja Krieg ... die Feuerwehrmänner haben die Stabbomben runterjeschmissen vom Dach, und wir haben in jede Ecke jeguckt, ob da eine Stabbombe ist.“ Sie hat „Privatkleidung“ getragen und Kittelschürzen. Zu Feiertagen und zum Geburtstag gab’s Unterwäsche und natürlich Kittelschürzen. Für Männer hatte sie keine Zeit, aber die waren auch Soldaten oder gefallen. Von einem der früheren Direktoren hat sie die beiden Tanten gepflegt, weil sie „...die einzige war, die mit ihnen fertig wurde.“ Grete weiß alles über das Stift und kann über sich und das Leben hier mit blitzenden Augen und erhobenem Mittelfinger berichten.

Während meiner Filmarbeit frage ich einen jungen Mann, Altenpfleger im 2. Lehrjahr: „Glauben Sie, dass Sie mit hundert auch noch so eine ruhige Hand haben wie Ihr Gegenüber, Frau Heinig?“ „Meine ist jetzt schon unruhiger als ihre“, antwortet er mir. „Was können Sie denn besonders gut“, frage ich ihn weiter. „Fliegen“, verstehe ich die kurze Antwort und denke auf Grund seiner Jugend an Fallschirm- oder Bungee-Springen. „Pflegen“, berichtigt er mich, „den betagten Menschen in Alltagssituationen helfen, wo sie selber nicht mehr zurecht kommen.“ Das hat mich unerhört beeindruckt; wie überhaupt die gesamte harmonische Stimmung dieses Nachmittags, den ich mit der Kamera festhalten konnte und Augenblicke davon in dem Film „Alles in ‚Heimarbeit’“ in Erinnerung bringe.

In unserer „Leistungsgesellschaft“ gehören immer mehr Druck und Stress zur Arbeitswelt, und die Zahl der psychisch Kranken steigt. Als Dienstleister am Gemeinwohl müssen sich Politiker einer alternden Gesellschaft Fragen stellen, wie „Altenpflege - ein Beruf mit Zukunft“ in Zukunft wertgeschätzt wird. Diese Fragestellung darf nicht dem Profilierungsstreben Einzelner überlassen werden. Nicht umsonst nannten Regisseur Jörg Gfrörer, Kameramann Michael Lösche und ich unser Filmprojekt „Entfernung von der Wirklichkeit“, das wir 1991 in den letzten Tagen des DDR-Fernsehens drehten. Streiten wir für unsere Pflegekräfte, damit ihr Engagement im Beruf nicht mit Hartz IV aufgestockt werden muss.

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