Es macht wieder Sinn

Michael Erilis

Wenn man die 60 überschritten hat und auf sein bisheriges Leben zurück sieht, kommen einem meistens erst die schönen und erfolgreichen Zeiten in den Sinn, dann aber auch gleich die schlechten. Mir jedenfalls geht es so. Denn Brüche im Leben zeichnen den Menschen stärker als die sonnigen Zeiten. Kaum jemand in meinem Umfeld, der seine Lebensplanung so umsetzen konnte, wie er (oder sie) es sich als junger Erwachsener gedacht hatte. Scheidungen, Krankheiten, eigene Unfälle oder der Verlust eines nahe stehenden Menschen, selbst der politische Wandel 1989 hatte und hat persönliche Brüche zur Folge.

Mein gewaltigster Bruch war schmerzhaft. Zehn Jahre als chronischer Schmerzpatient ohne helfende Medikation (war damals für die Arzneimittelforschung wegen des seltenen Krankheitsbildes nicht lukrativ genug), ließen mich in die Hölle fallen, in der ich alle vorangegangenen Sünden abbüßte. Als ich langsam wieder heraus gekrochen bin, war ich beim Sozialamt gelandet. Meine private Krankenkasse wollte wegen meiner Wanderungen von Arzt zu Arzt nichts mehr mit mir zu tun haben. Nun schlossen sich noch vier Jahre Arbeitsunfähigkeit an.

Eines Tages saß mir auf der anderen Seite eines Schreibtisches beim Sozialamt ein Mensch gegenüber, der es gut mit mir meinte – die gibt es wirklich. Während der letzten Jahre hatte ich in lichten Momenten alles aufgeschrieben, was mir in den Sinn kam und mich bewegte. In meinem Zustand eine Art der Selbsttherapie, die ich heute nur jedem empfehlen kann. Später habe ich einen Umzugskarton voll geschriebener Seiten in den Müll geworfen. Sie waren zu privat, eben nichts für andere Augen. Einige Aufsätze, meist philosophischer Natur, und einen über meinen Heimatbezirk Spandau habe ich auf Wunsch meinem Sozialarbeiter vorgelegt, so zu sagen als Arbeitsnachweis der letzten Jahre. Offensichtlich haben ihm diese Arbeiten gefallen. Er vertraute mir aus seinem persönlichen Fundus über einhundert handgeschriebene Briefe an, die ein politisch bewusster Neuköllner Arbeiter zwischen 1914 und 1918 an seinen Sohn schrieb, der an der Front Kriegsdienst leistete. Nun hatte ich eine feste Aufgabe. Ich lernte die alte deutsche Schrift lesen und übersetzte die Briefe, die über die Verhältnisse während des Krieges aus Neukölln berichteten. Um einen möglichst genauen Überblick zu erhalten, recherchierte ich im Landesarchiv und anderen Einrichtungen die täglichen Vorgänge und Lebensumstände der Neuköllner in dieser Zeit. Bald danach konnte ich meinem Sozialarbeiter ein fertiges Manuskript nebst Bildmaterial übergeben. Die Originalbriefe und -bilder habe ich der Heimatkundlichen Vereinigung Spandau übergeben, die das Material an Spandaus Partnerbezirk Neukölln weitergab.

2001 konnte ich an einer AB-Maßnahme teilnehmen, die Vorschläge zur Verbesserung des Spandauer Erscheinungsbildes im Bereich Tourismus erarbeitete. In dieser Zeit konnte ich gute Kontakte knüpfen. Sie ermöglichten es mir, nach Ende der Maßnahme viele Stunden im Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau Geschichten zu recherchieren, die mich interessierten und die ich in lockerer Erzählform zu Papier bringen konnte. Ich wurde Mitglied der Heimatkundlichen Vereinigung, die sich die Förderung des Spandauer Museums seit 1954 zur Aufgabe gemacht hat.

Neben dieser Arbeit hatte ich auch die Möglichkeit, am Neuköllner Heimatkalender 2005 mitzuarbeiten. Der Verlag ließ sich dann auf meinen Vorschlag ein, auch für Spandau einen Heimatkalender aufzulegen, und so habe ich hier einige Arbeiten für die Jahre 2006 und 2007 beisteuern können. Bezahlung gab es keine, aber Spaß hat es gemacht.

Leider war das Marketing des Verlages nicht besonders ausgeprägt, und für das Jahr 2008 wurde kein neuer Kalender mehr herausgegeben.

Im September 2006 erhielt ich vom Job-Center die Aufforderung, mich im Rahmen der Maßnahme 58+ bei einem Träger zu melden, der auf einem so genannten „Sozialmarkt“, abseits vom Hauptverkehr auf einem Hinterhof, aufgearbeitetes Gerümpel an arme Leute verkaufte. Nach einigen Vorgesprächen mit dem Archivleiter und der Kunstamtsleiterin Spandaus konnte ich meinem „Fallmanager“ berichten, dass stattdessen auf der Zitadelle für mich und für die nächsten drei Jahre ein Arbeitsplatz zusätzlich eingerichtet werden könnte. Nur passte das mit dem Programm der Trägergesellschaft nicht zusammen. Mein Sachbearbeiter im Job-Center war damit einverstanden, dass ich mir selbst einen passenden Träger suchen konnte. Nach einigen Informationsgesprächen mit verschiedenen Anbietern habe ich mich für den Kulturring in Berlin e.V. entschieden, weil die damalige Projektleiterin, Frau Hannelore Sigbjoernsen, gerade das Projekt „Orte und Persönlichkeiten“ neu einrichtete. So konnte ich mich im Rahmen dieses Projektes mit dem Aufbau einer „Zeitungsausschnitt-Sammlung“ im Archiv des Museums befassen.

Inzwischen hat die Sammlung mit vorläufig 246 Aktenordnern in 487 Untersparten aus allen Bereichen des Spandauer Lebens einen beachtlichen Umfang erreicht. Zurzeit kann ich im Rahmen des ÖBS (Öffentlichen Beschäftigungssektors) dort meine Arbeit fortsetzen. Seit einem Jahr arbeiten noch zwei weitere Kollegen mit mir im Archiv auf der Zitadelle. Einer ist mit der Aufarbeitung und Katalogisierung der Kartensammlung beschäftigt, der andere digitalisiert die Bestände des Archivs.

Allerdings ist der nächste Bruch in meinem Leben bereits abzusehen: Die Rente. Aber nun kann ich als Spandauer Lokalpatriot solange Geschichten über meinen Heimatbezirk schreiben, bis ich eines Tages den Löffel, oder besser den Kugelschreiber, aus der Hand legen muss.

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