„Wir sind nicht als Opfer geboren“

Aninka Ebert

Tatsächlich machte erst die offene, staatlich organisierte Verfolgung die Juden in Deutschland zu Opfern. Bis dahin waren die deutschen Juden, trotz weit verbreiteter Ressentiments, Teil der Gesellschaft. Vor allem teilten sie den gleichen Alltag mit allen Freuden und Nöten mit dem ihrer Nachbarn. Auch in Berlin amüsierten sie sich in den gleichen Theatern, lernten in den gleichen Schulen, spielten die gleichen Spiele auf den gleichen Straßen und Plätzen, schlenderten über den Ku-Damm, genossen die Sonne im Tiergarten, träumten die gleichen Träume vom Liebesglück, weinten gleiche Tränen über Verstorbene. Dass das Gleiche sich so nachhaltig in sein Gegenteil verkehren kann, dass es am Ende Vernichtung ermöglicht, ist eine Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen. Ein Anderes ist die immer wiederkehrende Frage: Wie war das möglich?

Die allumfassende Antwort kann und will die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg nicht geben. Sie wählt die Form der beschreibenden Erzählung. Erzählt werden 130 konkrete Geschichten von Juden im Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Sie wurden fast gänzlich mit Hilfe überlebender Zeitzeugen zusammengetragen, die mit Fotos, Briefen und Dokumenten Einblicke in ihre Familiengeschichte geben. In diesen Beschreibungen liegt die Kraft der Ausstellung, denn sie erzählen aus dem Alltag, einem normalen Alltag unter Gleichen, der zu einem der schrittweisen Ausgrenzung wird. Eine Freundin, die nicht mehr kommt, der Nachbar, der nicht mehr grüßt, Demütigungen in der Schule, Verbot von Kinobesuchen und öffentlichem Nahverkehr, die erzwungene Abgabe eines geliebten Haustieres, Verlust der Arbeit, der Wohnung, des Vermögens. Sie erzählen von der ungeheuren alltäglichen Anstrengung im Ringen um Würde und vom verzweifelten Bemühen um Reisepapiere und, wo es Überlebende gab, vom neuen Leben im Exil, manchmal auch von Rückkehr. Von den etwa 160 000 Berliner Juden lebten mehr als 16.000 vor 1933 in Schöneberg, über 2.000 in Tempelhof. Nur etwa 12.000 konnten fliehen und fanden Aufnahme in vielen Ländern der Erde. Weit über 6000 Menschen wurden allein aus diesem Bezirk vor den Augen ihrer Nachbarn deportiert.

Nun wird die Ausstellung „Wir waren Nachbarn – 130 Biografien jüdischer Zeitzeugen“ Ende Januar zum 6. Mal eröffnet. Mit Unterstützung des Kulturrings werden neben neuen Informationstafeln zu den Exilländern Beneluxstaaten und Frankreich auch in der diesjährigen Ausstellung wieder neue Alben dabei sein. Zum Beispiel von Benedict Lachmann, Anarchist und Buchhändler am Bayerischen Platz und Luise Zickel, deren Mädchenschule in Zeiten der Ausgrenzung für viele ein wichtiger Ort wurde. Die Familiengeschichte von Herta Basch erzählt deren Tochter, die heute als Künstlerin in England lebt. Ihr Besuch der Ausstellung 2009 inspirierte sie, die Geschichte ihrer Mutter aufzuschreiben. Bald wird die dritte Generation die überlieferten Geschichten beibringen und neue Erinnerungsformen begründen. Ausstellungseröffnung und Gedenkfeier finden am 24. Januar 2010 im Rathaus Schöneberg statt.

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