Meine Geschichte bin ich!

Ingrid Landmesser

„Meine Geschichte bin ich“, sagt die 90jährige Frau Bückner, als ich meine wohlvorbereiteten Fragen für unsere Videoaufnahmen „abarbeiten“ will. Überhaupt nimmt sie die „Regie“ in die Hand, ignoriert meine Fragen und erklärt mit ostpreußischem Akzent, dass sie von 1940 bis 1990 hier im St. Elisabeth-Stift gearbeitet hat, und jetzt ist es ihr zu Hause. Auf diese Weise erfahre ich spannende Geschichten, die ich mit meinen themenbezogenen Fragen nie aufgestöbert hätte. „Das ist ja mein Eberhard wie lebendig!“ ruft Frau Heinig aus, als wir ihr die Aufnahmen mit ihrem Sohn auf dem Kameradisplay zeigen. Frau Heinig ist 98 und hat ihren Eberhard allein großgezogen, weil ihr Mann 1944 in Stalingrad gefallen ist. Ich werfe mein Manuskript weg, weil auch die Gespräche mit den anderen Mitwirkenden nach deren Regeln ablaufen, hier in einem Pflegeheim in Berlin-Prenzlauer Berg. Es entsteht ein Filmprojekt der besonderen Art.

Die Geschichte: Kein halbes Jahr ist es her, da bat die Leitung des St. Elisabeth-Stift in der Eberswalder Strasse den Kulturring um Unterstützung bei der kulturellen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner. Von Hause aus Filmemacher, recherchieren zwei Mitarbeiter des Kulturrings im Stift. Das Besondere des Vorhabens ist, dass Heimbewohner, deren Angehörige, Mitarbeiter des Stifts - vom Heimleiter bis zur Auszubildenden - mit ihren Ideen und Wünschen die Filme selbst mitgestalten. Alle sind Mitwirkende und Zuschauer zugleich. „Kein Mensch kann lernen, nicht zu lernen“, lässt der Altmeister des Films, Alexander Kluge, den Helden in seinem Film „Abschied von gestern“ erkennen. Aktive Lebensgestaltung und Förderung der Kommunikation untereinander ist das Ziel des Projekts. Neben der Würdigung einzelner Lebensleistungen wird die Kiezumgebung des Stifts mit viel Musik und Spaß vorgestellt.

„Hier geht`s ja schlimmer zu wie uffm Kudamm“, nörgelt eine 100jährige, die mit ihrem Rollstuhl in die hauseigene Kapelle drängelt zu hausgemachtem Kintopp. Der Film beginnt, und es wird still. Heimlich beobachte ich „unser Publikum“ und habe mein eigenes emotionales „Kino“ mit selten so intensiven Reaktionen auf den Gesichtern. Für viele ist es ein ungewöhnliches und neues Erlebnis, sich oder Angehörige „wie lebendig“ auf der Leinwand zu sehen. Es gibt begeisterten Beifall und anschließend Häppchen. Die hat Frau Waltraud Ziervogel, Tochter von Konnopkes berühmtem Imbiss und jetzige Inhaberin, nicht zum ersten Mal dem nahe gelegenen Stift spendiert.

„Ich habe ja gar nicht gewusst, dass Sie hier früher gearbeitet haben“, sagt eine Betreuerin zu Frau Bückner und entführt sie per Rollstuhl zum Kaffee in die „amerikanische Küche“, dem umgebauten Gemeinschaftsraum. Dort singt eine alte Dame mit zarter Stimme: “Wenn ich ein Vöglein wär…“, aber diese Aufnahmen sind schon für einen neuen Film, der die Menschen im Stift einander näher bringen soll beim „Abschied von gestern“ im neuen Zuhause.

Abschlussarbeit Weiterbildungskurs

„Text- und Sprachkompetenz in der Öffentlichkeitsarbeit“

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