Hinter der Fassade

Ingo Knechtel

Blicke hinter die Fassade sind nie leicht. Gerade in Großstädten sind Wohnungstüren meist die Grenze zum Privaten. Fremde Blicke dahinter bedürfen einer Einladung. Und Gespräche bedürfen eines besonderen Einfühlungsvermögens, will man Einblicke ins private Leben gewinnen. Und um solche Einsichten ging es dem engagierten Team um Lidia Tirri und Ylva Queisser schon mehrmals in den vergangenen Jahren. Zuerst reizten die Zuckerbäckerfassaden der Karl-Marx-Allee, dann die Platte in der Allee der Kosmonauten, und schließlich wurde das Projekt abgerundet mit Blicken ins „Innenleben“ der visionären Wohnbauten des Hansaviertels. Entstanden sind für alle drei Standorte lebendige Bücher und Ausstellungen. Lebendig deshalb, weil sie die Bewohner zu Wort kommen lassen und weil sie ergänzt werden durch die liebevollen Portraits Lidia Tirris, einer wahren Fotokünstlerin. Sie wie auch die Journalistinnen nahmen sich viel Zeit, sie bringen uns mit ausgesprochen sensibler Distanz das Leben der Befragten nahe. Sie sparen keine Konflikte und Probleme aus, sie spiegeln das Leben, wie es ist – vor dem Hintergrund der lebenden Architektur, denn auch die hat sich über die Jahre verändert. Das Projekt zum Hansaviertel zeigt uns Ergebnisse der Internationalen Bauausstellung 1957 im Westen Berlins; vorgestellt werden sie mit den Bewohnern der Häuser solcher Architekten wie Alvar Aalto, Oscar Niemeyer und Walter Gropius, um nur einige zu nennen.

Zur Ausstellungseröffnung am 19. November drängen sich sehr viele Menschen in der zwar großzügigen, doch für den Abend viel zu kleinen Wohnung im Haus Baumgarten. Viele Bewohner waren gekommen, diskutierten über das Ergebnis des Projekts, das sie in Form einer sehr gelungenen und gut präsentierten Ausstellung und eines 125 Seiten umfassenden Buchs, aufwändig gestaltet mit zweisprachigen Texten in Deutsch und Englisch, erschienen im Verlag Amberpress (ISBN 3-9809655-6-2), bestaunen konnten. Herzlich begrüßt wurden die Gäste von Lidia Tirri und den beteiligten Projektmitarbeitern sowie von Kulturring-Vorstandsmitglied Ylva Queisser. Der Kulturring bot als Träger des Gesamtprojekts den Rahmen für das ehrenamtliche Engagement, ohne das gerade diese dritte Präsentation nicht möglich gewesen wäre. Unterstützt wurde er durch die niederländische und finnische Botschaft und zahlreiche private Sponsoren und Spender.

Gerade mit dem die Teilung Berlins überschreitenden Herangehen des Gesamtvorhabens werden weit über das Familiäre und Individuelle hinaus reichende Bilder gezeichnet, die uns mitnehmen in die Zeiten der Aufbruchstimmung in den 50er Jahren im Osten und Westen der Stadt sowie in die Zeit des Wohnungsbaubooms der 70er und 80er Jahre weit im Berliner Osten. Hier ist nichts vereinfachend und ideologisch gefärbt, alles ist menschlich. Und das reißt sogar die Berliner Zeitung zu der Bemerkung hin, angesichts der Ausstellung sei auch die Normalität interessant. „In den herrlichen Interviews Tirris kann man sehen, wie viel Zeit Normalität braucht, um zu entstehen, und wie schwierig es ist, sie zu bewahren.“ Man sollte sich die Zeit nehmen, die Ausstellung im Jubiläumsjahr des Hansaviertels zu besuchen.

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