Mit kriminalistischem Spürsinn auf historischer Spurensuche

Dr. Manfred Kaul

In unserer Reihe „Eine/r von uns“ stellen wir verdiente Mitglieder und Mitarbeiter des Kulturring in Berlin e. V. vor. Heute aus dem Projektbereich Mitte/Nord: Sonja Klöden.

Sonja lernte ich vor Jahren auf einem Stadtspaziergang in Berlin-Lichtenberg kennen. Eine zierliche, dem ersten Eindruck nach zurückhaltend wirkende Frau, die uns Geschichtsinteressierte durch einen wenig bekannten Teil Lichtenbergs führen wollte.

Und wie sie es tat! Bald schon war die Distanz zu uns Zuhörern überwunden, ein lebendes Archiv der Heimatgeschichte öffnete sich vor uns. Unwillkürlich musste ich an die legendäre Rias-Sendereihe „Kutte kennt sich aus“ denken, die auf humorvolle und kenntnisreiche Art Berliner Stadtteilgeschichte beleuchtete. Ihr Familienname indessen erinnerte mich an einen berühmten, gebürtigen Berliner – Karl Friedrich von Klöden (1786 – 1856), der sich auch als Historiker um seine Heimatstadt verdient gemacht hatte.

Und Sonja Klöden, stand ihre Wiege etwa auch in Berlin? Nein, und gerade deshalb ist sie eine echte Berlinerin. Berlin war stets auf Zuzug von außerhalb angewiesen, was den Volksmund veranlasste zu behaupten: “Wer ein echter Berliner sei, sei einmal auf dem Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) angekommen.“

Eben dies tat Sonja an einem Junitag 1968. Aber zuvor ein Blick zurück: Im Jahre 1948 in Beierfeld, einem kleinen Ort im Erzgebirge als das lange von den Eltern ersehnte erste Kind geboren, wuchs sie behütet und umsorgt in der Familie auf. Für ihre Erziehung prägend wurden die Erzählungen des Vaters (Jahrgang 1921) über Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg, über die Not und das Elend der Menschen. Seine Schlussfolgerung: „Das darf nie mehr sein!“ wurde auch zu ihrer Lebensmaxime.

Folglich engagierte sie sich frühzeitig für die Republik, die sich ein Arbeiter-und-Bauern-Staat nannte. Ihr Vater, einst Arbeiter, diente ihr jetzt als Offizier der Volkspolizei. Für die heranwachsende Sonja war es keine Phrase, wenn die Staatshymne, einer friedlichen Zukunft zugewandt beschwor, dass nie eine Mutter mehr eines Krieges wegen ihren Sohn beweinen sollte.

Sonja legte 1966 in Schwarzenberg/Erzgebirge ihr Abitur ab und absolvierte gleichzeitig, wie damals üblich, eine Facharbeiter-Ausbildung zur Mechanikerin im VEB Messgerätewerk Beierfeld. Schon in der Schule zeigten sich ihre Wissbegierde und ihre Hartnäckigkeit bei der Lösung komplizierter Lernaufgaben. Sie überzeugte mit ihrer Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und aus einem verwirrenden Tatsachenknäuel die entscheidenden Fakten herauszuarbeiten. Deshalb verwunderte es niemanden, dass zunächst ihr Berufswunsch Kriminalistin lautete.

Doch das Leben nahm einen etwas anderen Weg. Kurz nach dem Abitur folgte sie der Liebe und heiratete am 12. August 1966. Damals davon überzeugt, die Zukunft auch mit Kind in jungen Jahren meistern zu können, entschied sich das Paar für den Nachwuchs. Am 26. Mai 1967 war die Familie komplett, Sohn Ralf wurde geboren. Die erste gemeinsame Wohnung konnte man endlich im Juli 1968 im Zentrum der Hauptstadt Berlin beziehen. Im April 1970 gab es den ersehnten Kindergartenplatz. Nun standen der weiteren beruflichen Entwicklung viele Tore offen.

Die SED-Kreisleitung Berlin-Friedrichshain wurde 1970 auf diese junge Frau aufmerksam. Ihrer sozialen Herkunft, der Lebenseinstellung und ihrer Weltanschauung nach passte sie vorzüglich in den „Kaderentwicklungsplan“ der Genossen. Eine für die DDR durchaus typische Funktionärslaufbahn nahm ihren Anfang. Konfliktfrei waren die kommenden Jahre nicht, denn wie sie zu spät erkannte: Funktionärin zu sein, hieß auch „zu funktionieren“. Lehrgänge, Schulbesuche, praktische Arbeit wechselten einander ab, und inzwischen zweifache Mutter, besuchte sie von 1978 bis 1981 die Parteihochschule „Karl Marx“. Diplomgesellschaftswissenschaftlerin war sie nun, vergleichbar mit der heutigen studierten Politikwissenschaftlerin. Bis 1990 arbeitete sie als Lehrerin an der Bezirksparteischule Berlin. Dann bedurfte es keiner Parteischule mehr, das Volk der DDR hatte sich in demokratischer Wahl am 18. März 1990 für eine andere Gesellschaftsordnung entschieden, und die SED befand sich bereits auf ihrem langen Weg der Umgestaltung zum Verein.

1989/1990: Zeitenwende, Lebenswende - Nachdenken über das Woher, Wohin und Warum. Kritische Selbstbefragung nach eigenem Versagen, Angst vor der Zukunft und trotz alledem noch Hoffnung, einen existenzsichernden Arbeitsplatz bekommen zu können.

Sonja kämpfte gleich Hunderttausender Anderer, nachdem sie 1991 als PDS-Mitarbeiterin ausscheiden musste, um den beruflichen Anschluss an die Marktwirtschaft. Ihre Stationen hießen Ausbildung zur Bürokauffrau mit IHK-Abschluss, Arbeitslosigkeit, weitere Qualifizierung in der Lohn- und Finanzbuchhaltung. Eine Anstellung war nicht zu ergattern und objektive Vermögensberatung, Finanzdienstleistungen und Versicherungstätigkeiten lagen ihr nicht. So empfand sie es als „Errettung“, dass sie 1995 beim Kulturring in Berlin e. V. in einem Projekt zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Allee tätig werden konnte.

Geistig gefordert und voller Tatendrang brachte sie sich in die „Geschichtswerkstatt Berliner Osten“ ein. Erste, beachtenswerte Arbeitsergebnisse ließen nicht lange auf sich warten. Sie begründete die Heftreihe „Kleine Stadtwanderung“ mit, publizierte eigene Beiträge und gewann dem Kulturring neue Mitstreiter in der Heimatgeschichtsforschung. Fasziniert davon, wie spannend Regionalgeschichte sein kann, erlebte sie, dass sich hinter Bauakten und Häusergeschichten immer auch „Menschengeschichten“ verbargen. Wo andere nur triste Plattenbauten sahen, wie in der Frankfurter Allee-Süd, initiierte sie die historische Spurensuche und brachte überraschende Fakten zu Tage.

Eine erste kleine Ausstellung über die Geschichte des Wohngebietes Frankfurter Allee-Süd konnte aus Anlass des 5. Geburtstages des Nachbarschaftszentrums „Kiezspinne“ gezeigt werden. Durch weitere Recherchen ging daraus im Jahr 2000 die vielbeachtete Exposition im Heimatmuseum Lichtenberg „Zeitreise Frankfurter Allee“ hervor. Sonja gewann durch einfühlsame Gesprächsführung mit Zeitzeugen deren Vertrauen. Diese überließen ihr private Briefe zur Publikation. Es entstand das bewegende, einmalig authentische Buch „Briefe aus Berlin geschrieben von Maria Riedel, geb. Kielblock, 1942 bis 1958.“

Als Mitglied des Kulturrings in Berlin e. V. engagiert sie sich ehrenamtlich in der „IG Geschichte des Berliner Ostens“ und sagt von sich selbst, „froh zu sein, mit der Ortsgeschichte im Kulturring ein interessantes Aufgabenfeld gefunden zu haben.“ Ihr imponiert die kulturelle Vielfalt und das soziale Engagement des Kulturrings. Das aber ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, denn wenn es in ihrem Verein um die Berlingeschichte geht, heißt es oft: „Frag die Sonja, die kennt sich aus!“

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