Wir waren Nachbarn – 102 Biografien jüdischer Zeitzeugen

Aninka Ebert

Eine Ausstellung über jüdisches Leben in Tempelhof und Schöneberg

Wann immer an die jüdisch-deutsche Geschichte gedacht wird, steht das Geschehen des Holocaust im Vordergrund. Unmittelbar erscheinen uns Bilder von Leichenbergen in Konzentrationslagern, von Gettos und der ausgehungerten Leere des Blicks entmenschlichter Gesichter kurz vor dem sicheren Tod. Wie zum Hohn tragen diese Bilder, die doch nur beweisen wollten, fort, was die nazistische Propaganda Glauben machen wollte: das in sich Besondere des Jüdischen. Durch beliebige generalisierende Zuschreibung ließ sich ein Anderes konstruieren und ausgrenzen. Die scheinbaren Banalitäten des alltäglichen Vorurteils wurden zu normierten Instrumenten der schrittweisen Vernichtung gesellschaftlichen Zusammenlebens. "Das persönliche Problem", so Hannah Arendt im Rückblick, "war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten...das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete." Man könnte den Kreis der Freunde um den der guten Bekannten und Nachbarn erweitern. Ihr Rückzug, ihr Wegsehen und Hinnehmen machten die Gleichschaltung erst möglich.

Die Ausstellung "Wir waren Nachbarn" zeigt nicht den Holocaust als schicksalhaftes Ereignis, sie zeigt die Normalität des Alltags, das Davor und, wo es Überlebende gab, auch das Danach. 102 biografischen Alben, Familienfotoalben ähnlich, eröffnen verdichtete Familiengeschichten. Es sind Geschichten von Berühmtheiten, wie Walter Benjamin, Albert Einstein, Else Lasker-Schüler oder den Comedian Harmonists, aber auch von vielen Unbekannten, die erst durch die Deportationslisten der nationalsozialistischen Verwaltung recherchierbar wurden. In den biografischen Alben sehen wir sie mit Schultüten, auf einer Parkbank am Bayerischen Platz oder vor ihrem Nähwarenladen in der Albrechtstraße, und wir lesen wohlmeinend formulierte Arbeitszeugnisse, die in Wirklichkeit das gesetzliche Berufsverbot für Juden dokumentieren.

Das Kunstamt Tempelhof-Schöneberg als Veranstalter greift hierfür auf einen seit 20 Jahren kontinuierlich wachsenden Fundus von Erinnerungsarbeit zurück, der mit Hilfe von Zeitzeugen aus der ganzen Welt zum größten lokalhistorischen Archiv dieser Art in Berlin geworden ist.

Der Kulturring unterstützt die Realisierung der diesjährigen Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit dem Kunstamt im Rahmen eines vom JobCenter Tempelhof-Schöneberg geförderten MAE-Projekts. Mit Hilfe der 12 Künstler, Wissenschaftler, Grafikdesigner, Handwerker und Bürofachkräfte konnte die Ausstellung um neue Biografien erweitert werden. Neue Toninterviews mit hier lebenden jüdischen Jugendlichen in der Hör-Installation richten den Focus auf die Nachgeborenen und damit auf eine andere Form der Zeitzeugenschaft. Die Geschichte vermittelt sich hier über das Erzählen von der Kommunikation über sie: Wie wurde in der Familie über Erlebtes gesprochen, an welche Orte, Ereignisse und Personen binden sich die Erinnerungen? Für nichtjüdische Zeitzeugen, die bisher durch den Interviewfilm Geteilte Erinnerungen repräsentiert sind, findet sich in dem neuen Ausstellungselement Archiv der Erinnerungen ein weiteres Forum. Kleine Geschichten, Fotos oder Briefe geben Einblicke in das Erlebte und Erinnerte. Die Besucher sind aufgefordert, dieses Archiv aus heutiger Perspektive zu erweitern.

Auch in diesem Jahr wird es ein Rahmenprogramm geben, das ab dem 21.2, jeweils Dienstag im Rathaus Schöneberg zu sehen ist. Neben literarisch-musikalischen Veranstaltungen finden Gesprächsabende mit Zeitzeugen statt, die damalige Zufluchtsorte beispielhaft beleuchten: Südamerika, USA, Shanghai und auch Verstecke in der Nachbarschaft. Am 23.04. lädt der Veranstalter im Rahmen der Finissage zu einer Szenischen Lesung über Elke Lasker Schüler ein.

Termine und Öffnungszeiten unter www.hausamkleistpark-berlin.de

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