Mit wunderbarer Anmut bewahren – Das Silvester Festkonzert 2017

Wolfram Haack

In der filmischen Tragikomödie „The Grand Budapest Hotel“, die 2014 die Internationalen Filmfestspiele von Berlin eröffnete, lässt Drehbuchautor und Regisseur Wes Anderson den Erzähler der inneren Rahmenhandlung, einen gewissen Zéro Moustafa, verkörpert vom großartigen F. Murray Abraham, das Dilemma erklären, in welche unsere Erinnerung an Erzählungen oder Musik vergangener Epochen, die es zu bewahren lohnt, jedesmal verstrickt ist. Über die Hauptfigur des Films vom fiktiven Grandhotels aus besseren Zeiten, den Concierge Monsieur Gustave H, lässt er ausrichten: „Offen gesagt, ich glaube seine Welt war verschwunden, lange bevor er in sie trat. Aber ich darf auch sagen, er hat die Illusion in der Tat mit wunderbarer Anmut bewahrt.“ Besser kann man nicht erklären, was ein Orchester, das die historische Aufführungspraxis pflegt, eigentlich herausfordert.

Für die zur Tradition des Berliner Musiklebens gewordenen Silvester-Festkonzerte in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche setzen Concerto Brandenburg und sein Publikum auf die großartige, erhaltenswerte Fülle eines Repertoires, das vom Barock bis zur späten Romantik reicht. Die Illusion vergangener Epochen mit wunderbarer Anmut zu bewahren, bedeutet aber auch, sich dem Hier und Jetzt immer aufs neue in der Aufführungspraxis zu stellen.

Mit Abscheu wie Trauer, erinnern wir uns an die nicht ein Jahr zurückliegende Katastrophe des Anschlags am Breitscheidplatz. Concerto Brandenburg beschloss der Gemeinheit zum Trotz und gegen jeden Anflug von Ohnmacht, die beiden Silvester-Festkonzerte dennoch stattfinden zu lassen und widmete sie dem Frieden, der Vernunft und der Versöhnung. Quasi in letzter Sekunde musste die geplante Programmabfolge geändert werden, Notenmaterial für drei neue Stücke wurde beschafft, die zusätzlichen Stücke sorgsam geprobt. Buchstäblich in vorvorletzter Sekunde fiel schließlich der wegen Krankheit indisponierte Countertenor Hagen Matzeit aus; der zauberhafte Countertenor Eric Jurenas, der an der Komischen Oper gerade in Richard Ayres’ „Peter Pan“ die Titelrolle sang, sprang mit Verve und vollem Engagement ein und bereicherte dieses unter so schwierigen Bedingungen stattfindende Silvester-Festkonzert 2016 für die Musiker und Musikerinnen von Concerto Brandenburg und ihr wunderbares Publikum mit dem Glanz und der Wärme seiner Stimme.

Auch in diesem Jahr liegt die Messlatte der Herausforderungen, denen sich der Klangkörper stellt, auf künstlerisch-musikalischem Gebiet enorm hoch. Concerto Brandenburg und der diesjährige Solist P?emysl Vojta haben sich unter der musikalischen Leitung von Prof. Christian-Friedrich Dallmann der Interpretation gleich mehrerer musikalisch wie technisch höchst anspruchsvoller Werke der klassischen und romantischen Epoche angenommen.

Die Introduktion macht Felix Mendelssohn-Bartholdys Konzertouvertüre op. 32 zum „Märchen von der schöne Melusine“, ein kanpp 15minütiges hochromantisches Werk mit großen klassischen Anklängen. Mendelssohn hat sie 1833 komponiert, wahrscheinlich angeregt von einem Besuch der Oper „Melusina“ von Conradin Kreuzer im Königsstädtischen Theater in Berlin. Das Libretto zur „Melusina“ stammte von niemand Geringerem als Franz Grillparzer und war ursprünglich dazu gedacht, Ludwig van Beethoven zu einer weiteren Opernkomposition anzuregen. Beethoven soll angeblich schon einzelne Skizzen zu Papier gebracht haben, starb aber bekanntlich 1827 in Wien. Mendelssohns Ehrgeiz, sich des Stoffs anzunehmen, rührt sicherlich auch daher, sich an der klassischen Kompositionstechnik Beethovens zu schulen. Die Uraufführung der Konzertouvertüre fand 1835 im alten Leipziger Gewandhaus statt, wo Mendelssohn im Oktober des gleichen Jahres als Kapellmeister antrat.

Der 18jährige Richard Strauss schrieb, anstatt auf den Unterricht zu achten, unter der Schulbank seine Serenade in Es-Dur, op 7, ein reines Bläserstück und ein Meisterwerk klassischer Instrumentation, mit dem der junge Komponist Mozarts Serenaden nacheiferte. Der Dirigent Hans von Bühlow fand dieses Bläserfest reif genug, um es in sein Tourneeprogramm aufzunehmen. Im Silvester-Festkonzert 2017 von Concerto Brandenburg steht es nicht ohne Grund an zweiter Stelle.

Der Solohornist und ARD-Preisträger P?emysl Vojta spielt sich, um es etwas despektierlich zu formulieren, in der Strauss-Serenade schon einmal im Ensemble warm. Und außerdem: Wir finden in der Bläserserenade wiederum jenes mit Anmut bewahrte klassische Musikerbe. Das kann das werte Publikum auch gleich im Anschluss daran selbst überprüfen, wenn Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie Nr. 39 in Es-Dur, KV 543, auf dem Programm steht. Der von Geldsorgen geplagte Mozart schrieb sie innerhalb weniger Wochen im Sommer 1877. Die romantische Deutung versah Mozarts Sinfonie Nr. 39 mit dem Beinamen „Schwanengesang“. Mozart konnte sich nicht mehr wehren, wie Mendelssohn, der Robert Schumanns gut gemeinte programmatische Beschreibung der „Melusine“ von „schießenden Fischen mit Goldschuppen und Perlen in offenen Muscheln“ – es geht ja um eine Wasserfee oder Nixe – wahrscheinlich gar nicht billigte.

Richard Strauss‘ Vater, Franz Joseph Strauss, gebürtig in der Oberpfalz, brachte es als Sohn eines Gendarmen mit Fleiß und Ellenbogen zum Solohornisten der Königlich Bayerischen Hofkapelle. Er heiratete in zweiter Ehe Richards Mutter, die Tochter des Münchner „Bierbarons“ Georg Pschorr. Dem Virtuositätsgrad unseres Silvester-Schlussakkords ist die Maß Bier nicht anzumerken. Der mittlere, Andante überschriebene Satz des Konzerts kommt einfach und anmutig daher, ist rein technisch aber hochprozentiger als Wiesenbier.

Der Solist der Silvester-Festkonzerte 2017 P?emysl Vojta (geb. 1983 in Brno, Tschechien) ist Preisträger des Internationalen Wettbewerbes in Brünn, Bratislava und in Vidnava. Im September 2010 gewann er den ersten Preis beim „Internationalen ARD-Musikwettbewerb“ in München, bei dem er auch mit dem Publikumspreis, dem Preis für die beste Interpretation des Auftragswerkes und dem Sonderpreis der Neuen Philharmonie Westfalen ausgezeichnet wurde. Nach seinem überaus erfolgreichen Debüt beim Beethovenfest Bonn wurde er 2011 außerdem mit dem Beethoven-Ring ausgezeichnet. Er war Akademist der Staatskapelle Dresden, Solohornist der Prager Kammerphilharmonie, der Staatskapelle Berlin, des Konzerthausorchesters Berlin und seit Dezember 2015 ist er in selber Position im WDR Sinfonieorchester Köln. Christian-Friedrich Dallmann (geb. 1955 in Karlsburg) lernte an der Spezialschule für Musik Berlin und studierte bei Kurt Palm an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, wo er später auch lehrte. Danach erhielt Dallmann eine Professur für Horn in Detmold und ist seit 2004 an der Universität der Künste (UdK) in Berlin tätig. Im Berliner Sinfonieorchester (BSO), dem jetzigen Konzerthausorchester Berlin, war er lange Zeit Erster Solohornist. Er wirkt häufig bei Concerto Brandenburg als Hornist (Naturhorn) mit, leitet das diesjährige Silvester-Festkonzert und leitete zahlreiche zuvor.

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