Der Bohnsdorfer Maler und Bildhauer Harry T. Böckmann hat einen festen Platz in der Treptow-Köpenicker Kunstszene. Dem Kulturring Süd-Ost ist er seit vielen Jahren durch Malkurse im Kulturbund-Club in der Ernststraße und der Kulturküche Bohnsdorf verbunden. Vor 18 Jahren war er in der Gruppenausstellung in den neu eröffneten Räumen der Kulturbund-Galerie vertreten. Unter dem Titel „Der vierziger Jahrgang” waren darin Arbeiten von Künstlern zusammengetragen, deren Gemeinsamkeit keine künstlerische, sondern eine biographische ist, nämlich etwa der gleichen Generation anzugehören und Treptow-Köpenick als wesentlichen Lebensmittelpunkt zu haben. Die Generation, der stellvertretend mit dieser Ausstellung Achtung und Würdigung zuteil werden sollte, ist die Generation der Kriegs- und Luftschutzbunker-Kinder, die Generation der Flüchtlings- und Nachkriegskinder. Angst, Hunger, Entbehrung gehören zu ihren frühkindlichen Urerlebnissen, die ihr weiteres Leben auf die eine oder andere Weise prägen sollten. Harry T. Böckmann stand dort in einer Reihe mit solchen in diesem Bezirk bekannten Künstlern wie Barbara Kirchner, Barbara Müller-Kageler, Manfred Hahn, Klaus König, Achim Kühn, Gerhard Lahr, Rüdiger Roehl oder Siegfried Schütze.
Auch Harry T. Böckmann verkörpert mit seinem sehr eigenen, verschlungenen Lebenswerdegang die Schicksalswege dieser Generation, wenn auch auf eine etwas auffällige Weise gleich mehrere ungewöhnliche Verquickungen miteinander verknüpfend: Den Sohn einer exilrussischen Mutter aus großbürgerlichem Moskowiter Hause und eines Vaters aus dem schwedischen Hochadel verschlägt es mit der Mutter zunächst in das Berlin der Bombennächte und der Nachkriegsnot. Er wächst dann mehrsprachig auf dem feudalen Landgut seines schwedischen Großvaters auf, der, selbst Maler, sehr bald das künstlerische Talent des Heranwachsenden entdeckt und fördert. In dieser für ihn glücklichen Kindheitsphase liegen die Wurzeln für Böckmanns nie erloschenen Drang, sich bildkünstlerisch auszudrücken, ein Drang, der schon im Alter von 12 Jahren mit einer eigenen Ausstellung in der Königlich-Schwedischen Akademie der Schönen Künste belohnt und befeuert wird.
Seine Schulzeit ist durch eine weitere a-typische Kombination charakterisiert, der von naturwissenschaftlicher und künstlerischer Förderung. Und schließlich ein dritter neben der Spur liegender Lebensstrang, den man ihm wohl kaum an der Wiege gesungen haben dürfte: Bedingt durch vielerlei familiärer Zufälle und historischer Schicksalswendungen landet der kosmopolitisch-polyglott aufgewachsene Großbürger- und Adelsspross später ausgerechnet in der sich als Arbeiter- und Bauernstaat verstehenden DDR und nimmt sogar nolens volens deren Staatsbürgerschaft an. Das ist wahrlich ein nicht alltäglicher biografischer Cocktail aus Gegensätzen sprachlich-kultureller, sozialer und Bildungsprägungen. Von wegen Multi-Kulti ist gescheitert, wie uns das unsere Dauerbundeskanzlerin immer wieder weismachen will. Harry T. Böckmann ist ein lebendiger Gegenbeweis.
Die Neigung zum Gegensätzlichen sollte auch seinen späteren Bildungsweg in der DDR bestimmen. Vor seinem Abschluss als Dipl. Ing. für Maschinenbau erlernt er mehrere Metallberufe, erwirbt daneben ein Sprachendiplom als technischer Übersetzer für Russisch und Schwedisch, hört Vorlesungen zur Kunstgeschichte und Philosophie und quält sich freiwillig mit Hegels Dialektik. Sein Leben, sein reales wie das in seiner Vorstellung, scheint sich in diesem Spannungsfeld zwischen naturwissenschaftlich-mathematischer und künstlerischer Weltwahrnehmung und Selbstentäußerung abzuspielen.
Aber auch als Künstler schimmern seine Prägungen und Neigungen zur schöpferischen Kombination von Gegensätzlichem durch. Freunde und Verehrer seiner Kunst haben Harry T. Böckmann das Pseudonym „Sinus“ verpasst, das ihm gleichsam zum Label geworden ist. Wer sich noch dunkel an die qualvollen Mathematik-Stunden mit der Berechnung von Kathete und Hypotenuse erinnert, wird mit der sehr komplexen Sinusfunktion wohl vor allem eins assoziieren: die Beschreibung von Schwingungen. Möglicherweise erleichtert diese Charakter-Metapher des Künstlers den Zugang zu seinen Bildern, wenn man sie in ihrer Bildrhythmik als unbewusste Ausdrucksformen innerer seelischer Schwingungen ansieht.
Diese Hypothese drängt sich vor allem bei seinen Akten und Figuren auf. Hinter einer mitunter mathematisch-streng anmutenden Bildkomposition und Figurendarbietung verbirgt sich unverkennbar ein sehr spontaner, schwunghafter und emotionaler Gestus, ganz so, als ob sich in diesem ästhetischen Spannungsfeld die beiden Seelen in der Künstlerbrust zwischen der naturwissenschaftlich-technischen und ungebunden-kreativen Neigung ihren Ausdruck erheischen. Es sind gefühlsspontane Konzentrate angestauter emotionaler Erinnerungen. Er male am liebsten intuitiv „drauflos“, ohne Regelzwänge und kompositorischen Plan, bekennt Böckmann freimütig, dem selbst nie eine kunstakademische Ausbildung vergönnt war. So muten seine Bilder oft an wie wachgerufene sensuelle Highlights, Gefühlserinnerungen, Evokationen aus den Tiefen des Unbewussten.
Ein durchgängiges, verklammerndes Muster seiner Bilder ist auf den ersten Blick eigentlich nicht so ohne weiteres erkennbar. Vor allem ergibt sich die Frage, was die verschiedenen Vorlieben zu so unterschiedlichen Sujets miteinander zu tun haben könnten, wie die stillen Baumlandschaften, die verträumt-pittoresken venezianischen Ecken und Szenen, die erotisch-knisternden Akte und Körperstudien, die großflächigen, in ihrer sehr freihändigen allegorischen Deutung wenig religiöse Ehrfurcht einflößenden Bilder aus der „Genesis“-Serie oder schließlich die abstrakten, lustvollen Farbenspiele ohne figurativen Vorwand. Auffällig dann doch das Spannungsverhältnis zwischen orgiastisch-lustvoll geballter Energie und ruhevoller Zartheit, wie in den Bildern aus dem Sujetkomplex „Zweisamkeit“, so auch der Titel einer früheren Ausstellung. Da kann es schon mal vorkommen, dass dem Künstler in sinnlichem Überschwang die Pferde des Farbduktus‘ durchgehen, wie beim „Date“. Da wäre dann die betont gesichts- und raumlose, nebulöse Körperlichkeit in den Aktstudien, das Betrachterauge, wie bei der berühmten antiken Laokoon-Gruppe auf den „fruchtbaren Augenblick“ lenkend, bei Böckmann der „Goldene Moment“, auf die Stimmungsambivalenz der erotischen Situation verweisend: das stürmisch-begehende Vorher und das nachhallend-abklingende Nachher mit seinem versunkenen In-sich-Hineinhorchen. Zugleich reflektieren die sehr assoziationsreich mit „Körperlandschaften“ betitelten Akte die Lust am sinnlichen Entdecken des geliebten weiblichen Körpers, so wie man eine geheimnisumwitterte Landschaft entdeckt, aber zugleich auch den ehrfürchtigen Respekt vor ihm. Auffallend dabei die Vorliebe Böckmanns für zwielichtige Übergänge („Morgenstunde“, Frühlicht aus dem Pariser Hotelfenster, „Blaue Stunde“ usw.). Dafür drängt sich nachgerade der Topos „Liebesdämmerung“ auf.
In der Kritik werden Böckmanns Bilder als Ausdruck „subtiler Poesie“, „offener Lebensfreude“, „schwärmerischer Flüchtigkeit“ gesehen, die von seiner Lust am „Spiel auf der Klaviatur der Farben und Lichter“ zeugten (Swoboda Jähne). Seine eigene Methode, Acrylfarben und Pigmente zu kombinieren, führe zu einer eigentümlichen Synthese von farbiger Sattheit und Tiefe. In der Tat, die Schattierungen zwischen Giftgrün und Kobaltblau erinnern an die Palette eines Franz Marc oder August Macke. Auch die Parallelen zwischen den „unendlich schwingenden Grundlinien, Kehlungen der Landschaften“ und den „kurvig fließende Farbfahnen und Formen“ der Körperlandschaften springen ins Auge. Wie der weibliche Körper als eine zu entdeckende Landschaft, so wohnt umgekehrt den klassischen Landschaften Böckmanns so etwas wie das „ewig Weibliche“ inne. Von beiden fühlt er sich gleichermaßen angezogen, um mit Goethe zu reden.
Als Maler hat sich Harry T. Böckmann in unterschiedlichen Techniken ausprobiert. In der Neigung, das Malerische mit dem Grafisch-Zeichnerischen zu verbinden, hat er lange Zeit Acryl und Pastell bevorzugt. Auf Reisen hingegen stand stets das Aquarell im Vordergrund. Durch Zufall, genauer eine Art Unfall, kam er dann auf eine völlig neue Technik. Beim Signieren verkippte er aus Schusseligkeit ein Tuschefläschchen auf einem fertigen Bild. Das Bild war hin, zumindest in seiner ursprünglichen Gestalt. Der erste Schreck musste schnell der Lust weichen, aus der Not eine Tugend zu machen, denn die auf dem Blatt ergossene Farblache bildete bizarre Formen und weckte das kreative Interesse. Da nun eh nichts mehr rettbar schien, kippte er kurzerhand eine weitere, diesmal schiefergraue Farblache dazu, um staunend mit der Interaktion beider Farbströmungen quasi ein neues Bild entstehen zu lassen. Das war die Geburtsstunde einer neuen Technik mit dem ästhetischen Reiz, der sich einstellen kann, wenn man den Farben gleichsam freien Lauf lässt und das Entstehende als Angebot auffasst, das man annehmen oder ausschlagen kann. Den auf diese Weise entstehenden Bildern ist also neben dem geplant Beabsichtigten eine gehörige Prise Zufällig-Anarchisches beigemischt. Dabei sollen die unteren „Willensschichten“ mit ihrem Stimmungs-Code stets hinreichend durchschimmern und identifizierbar bleiben. Das Chaos steht gleichsam unter Aufsicht einer künstlerischen Grundidee. Wie zu sehen, liebt Böckmann auch in seiner Technik das widerstreitende Spiel der Gegensätze, ist in diesem Sinne wohl ein weiterer indirekter Ausfluss seines ganzen Lebens.
Zum 75.: Auswahl des Oeuvres von Böckmann im Ratz-Fatz - Kulturzentrum Schöneweide und in der Bohnsdorfer Kulturküche, dort zusammen mit seinem Schüler Andreas Jennewein (siehe auch unsere Abbildung oben).