Es passierte alles ganz kurzfristig und schnell. Mit den Aktionen von Pussy Riot erregte sie weltweites Aufsehen, und nun sollte sie nach Berlin kommen, zu einer Lesung und Vorstellung ihres Buchs „Riot Days - Tage des Aufstands“: Mascha Alechina, feministische Künstlerin, die auch hierzulande vor allem durch das Prisma von Haltungen gegenüber der russischen Regierung wahrgenommen wird, eine Herausforderung nicht nur für das russische Establishment? Würde daher alles so laufen wie erhofft? Doch erzählen wir die Geschichte von Beginn an.
Im Zusammenhang mit der russischen Oppositionsbewegung um den Jahreswechsel 2011/2012 kam es, so beschreibt das ein im Internet lesbarer Artikel (https://www.dekoder.org/de/gnose/pussy-riot), „an öffentlichen Orten in Moskau zu wilden Spektakeln. Auf einmal standen da drei Frauen mit grellbunten Kleidern und Sturmmasken, ... zu Punk-Klängen aus einem portablen Abspielgerät brüllte die eine in ein Mikrophon, die andere krachte auf einer E-Gitarre, alle drei sprangen wild herum“. Zum Konzept der Aktionen gehörte die baldige Veröffentlichung der Musikvideos im Netz. (Auch wurden die Texte der Band erst so akustisch verständlich.) Ein im Februar 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale aufgeführtes „Punkgebet“ führte zur Verhaftung und schließlich zu dem Aufsehen erregenden Prozess, der zwei Mitglieder von Pussy Riot, Nadja Tolokonnikova und Mascha Alechina, zur mehrjährigen Verbannung in ein Straflager verurteilte. Die Anklage lautete auf „Störung der öffentlichen Ordnung durch Rowdytum“ mit dem Motiv der „Verletzung religiöser Gefühle“ und gründete damit auf einem Paragrafen, der erst 2007 in veränderter Form wieder eingeführt worden war, und auch nichtgewaltsame Handlungen unter strafrechtliche Verfolgung stellt, wenn sie in der Störung der öffentlichen Ordnung eine „tiefe Verachtung der Gesellschaft“ deutlich machen. In einem von kirchlichen Kodizes durchzogenen Prozess wurden, so der Autor u.a. weiter, die Musikerinnen zu Hexen, der Pogo-Tanz zum Veitstanz umgedeutet. Hiermit schloss er an zahlreiche andere Prozesse des vergangenen Jahrzehnts in Russland an. (Eine Sammlung der verschiedenen Stellungnahmen bei der Gerichtsverhandlung in deutscher Sprache findet sich in: Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit, Nautilus Flugschrift, Hamburg 2012.) Im Jahr 2013 wurden beide Frauen, kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi, aus der Haft entlassen.
Die Gruppe Pussy Riot, die die Anonymität ihrer Mitglieder als Merkmal trug – jede(r) kann Pussy Riot sein! - löste sich offiziell auf. Gleichzeitig wurde sie auch durch die nun bekannten Gesichter umso präsenter – so traten N. Tolokonnikova, M. Alechina und P. Verzilov in einer Folge der Serie „House of Cards“ auf (mit fiktiven Präsidenten Putin und Trump), Tolokonnikova machte diverse Musikvideos, auch bezüglich aktueller amerikanischer Politik, und Mascha Alechina gründete nach eigenen Erfolgen am Theater 2016 das Pussy Riot Theatre. Dessen Aufführungen basieren auf ihrem im Herbst im Berliner Verlag ciconia ciconia auf Deutsch veröffentlichten Buch „Riot Days – Tage des Aufstands“, das ihre Zeit mit Pussy Riot und ihre Erfahrungen in den russischen Straflagern zum Thema hat und erster Gegenstand der Lesung im Studio Bildende Kunst in Berlin-Lichtenberg sein sollte. Schnell wurden mit der Bürgerstiftung Lichtenberg und den Freundinnen und Freunden der Heinrich Böll-Stiftung zwei unbürokratisch agierende Förderer gefunden, welche die Umsetzung möglich machten. Am 20. April sollte die Lesung unter Beteiligung des Verlages ciconia ciconia und der Lichtenberger Buchhandlung Paul+Paula nun stattfinden...
Aber genauso groß wie die Freude über die Zusage Alechinas erwies sich das von den Veranstaltern eingegangene „Risiko“ bei der Planung mit Aktivist*innen an sich: dass nämlich die Realität (von Aktionen bzw. Strafverfolgungen) alle Planungen überholen kann, was andererseits ja einen Zugewinn an Aktualität für die Veranstaltung bedeutet. Mascha Alechina wurde in derselben Woche (am 16.4.) wegen einer Protestaktion gegen die Blockade des einflussreichen Messenger-Dienstes Telegram durch die russischen Behörden mit anderen Aktivist*innen für 48 Stunden inhaftiert. Nach ihrer Freilassung hofften alle auf ihre rechtzeitige Ausreise nach Berlin, doch vergebens: wegen eines Berufungsprozesses gegen das erfolgte Urteil am selben Tag verfiel ihr Freitagsticket nach Berlin. Wie sah die Protestaktion aus, die die Pläne über den Haufen warf? Die Aktivist*innen hatten Papierflugzeuge, das Symbol von Telegram, in Richtung des FSB-Gebäudes (ehemals KGB) geworfen. Die Auseinandersetzung mit Telegram, bei der technisch über 20 Millionen IP-Adressen blockiert wurden, wurde bereits als größter Angriff auf die Infrastruktur des Internets in Russland bezeichnet.
All das sollte dann auch bei der Lesung eingehend erläutert werden. Denn natürlich fiel sie nicht aus. Der Kulturring hatte sich für ein Skype-Gespräch mit Mascha Alechina entschieden, das die Veranstaltung dann auch eröffnete. Per Handy erzählte sie von den neuesten Ereignissen. Im Folgenden schilderte Mascha Alechinas Verleger Wladimir Velminski sein erstes Kennenlernen mit ihr anlässlich einer der Prozesse gegen den Aktionskünstler Pjotr Pawlenski in Moskau. Bei der Gelegenheit wurde auch der Verlag und sein Profil vorgestellt, was das Interesse der durchweg aufmerksamen Zuhörer bereits auf die Darstellung von Konstanten russischer Kulturpolitik der Ära lenkte. Es folgte die Lesung von Ausschnitten des Buches Alechinas: „Riot Days – Tage des Aufstands“ durch ihre Übersetzerin Maria Rajer. Diese wurde von gelegentlichen Einschüben oder Fragen von Moderatorenseite begleitet. Die Zuhörer befanden sich schnell im Sog des Textes, was etwas später in interessierten Fragen zum Ausdruck kam. Deutlich wurde in den Texten neben Alechinas dichter Beschreibung des Erlebten ihre Entscheidung, sich auch zur Anwältin der Insassinnen in den Lagern zu machen.
An diese Lesung schloss sich als weiterer Programmpunkt die Vorstellung des Projektes der Fotografin Ira Emets an. Im ersten Stock der Villa Skupin wurden Bilder ihres Projektes mit Strafgefangenen „Wenigstens fünf Schritte“ ausgestellt. Das Buch zum Projekt erschien in deutscher Sprache im gleichen Verlag. Ein inhaltlicher Zusammenhang ergab sich außerdem über die Tätigkeit beider Autorinnen für das von M. Alechina und N. Tolokonnikova mitbegründete unabhängige Internetportal „Mediazona“, das sich Themen des Strafvollzugs in Russland widmet (https://zona.media) und das inzwischen ein wichtiger Bestandteil der aktuellen russischen Medienlandschaft ist.
Ira Emets führte in einer „Besserungskolonie“ mit allgemeinem Vollzugsregime für Wiederholungstäterinnen Gespräche mit den Insassinnen. Die Frauen sollten sich dabei mit Selbstauslöser allein fotografieren, wobei sie sich für das Foto nach ihren Vorstellungen schön machten; sie porträtierte die Schlafplätze der Frauen, einen Ort, an dem die Frauen wie insgesamt in der Kolonie nie allein sind, und ließ diese schließlich einen „Lieblingsort“ aufsuchen, an dem sie über ihre Lebensgeschichten, ihre Wünsche und Hoffnungen erzählten. Auch wurden alle Frauen nach ihrer persönlichen Vorstellung einer „schönen Frau“ befragt. Da Maria Rajer auch Übersetzerin dieses Buches ist, las sie längere Zeit aus drei Geschichten der Frauen, was ebenfalls sehr aufmerksam verfolgt wurde. Eine Diskussions- und Fragerunde mit dem Publikum schloss die Lesung ab. Im angrenzenden Raum war ein Büchertisch und auch eine kleine Videostation aufgebaut, letztere um die Aktionen von Pussy Riot sowie die Videos von Nadja Tolokonnikova und die Auftritte des von Mascha Alechina initiierten Pussy Riot Theatre zu präsentieren. Resümierend bleibt festzustellen, dass sich eine solche Veranstaltung zu aktuellen Themen und von zeitgenössischen Autor*innen gerade in der Gegenwart als ein guter Weg der hautnahen und authentischen Vermittlung von Informationen aus dem heutigen Russland erwies. Die Besucher*innen nahmen die Möglichkeit, die Ausstellung noch zu sehen, sich am Büchertisch zu informieren und zu Gesprächen im Anschluss an die Lesung rege wahr.