Begegnungen in der Ausstellung: Wir waren Nachbarn

Marita Waibel

Mittagszeit, kein Lüftchen bewegt sich in der Ausstellungshalle von WIR WAREN NACHBARN. Ein Mann kommt zu mir an den Infotisch, gefolgt von einem älteren Ehepaar aus den Vereinigten Staaten. „Können Sie uns helfen? Wir sind auf der Suche nach Max Hirschfeld. Er hat in Wilmersdorf gewohnt.“ Da sich die Ausstellung auf Schöneberg bezieht, zeige ich ihnen das Gedenkbuch von Berlin und lasse sie alleine. Die Aufregung und Anspannung ist mit den Händen zu greifen. Kurze Zeit später wenden sie sich wieder an mich. Sie haben im Berliner Gedenkbuch eine andere Adresse gefunden. Ich gehe mit ihnen zu den Karteikarten von Andreas Wilcke, die nach Straßennamen sortiert ein wichtiger Bestandteil der Ausstellung sind und finde die Bozener Straße 10. Und da stehen die Karteikarten nebeneinander: Max und Hertha Hirschfeld und Arthur und Henriette Hirschfeld.

Das Gesicht des Mannes wird blass, und er muss sich setzen. Er hat seinen Vater und die zweite Frau seines Vaters und seinen Onkel und seine Tante gefunden. „Es tut mir so leid“, sage ich und wir schweigen. Ich habe von meinen Kolleginnen gehört, dass es solche Begegnungen in der Ausstellung gibt, doch es ist etwas ganz anderes, wenn man es persönlich erlebt.

„Was bedeutet das oben rechts“, fragt mich der Mann und zeigt mit der Hand auf einen Namen. „Ihr Vater hat bei Kahn gewohnt.“ „Er hatte keine eigene Wohnung mehr?“

„Nein, er musste seine Wohnung verlassen und wurde am 26.06.1942 nach Theresienstadt deportiert.“ „Ist er auch dort gestorben?“ „Das müsste ich recherchieren.“ „Ja, bitte, schauen Sie nach.“

Ich suche im Gedenkbuch Online nach dem Namen Max Hirschfeld. Beim Sterbedatum finde ich keine Angabe, doch unter Sterbeort steht Maly Trostinez. Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren in der Ausstellung, von Maly Trostinez habe ich noch nicht gehört. Ich sehe im Internet nach und lese: „Zur Exekutionsstätte von Maly Trostinez, einem Kiefernwäldchen, etwa 12 Kilometer südöstlich von Minsk, wurden die Insassen der Sonderzüge mit Lastkraftwagen gebracht und dort von der Waffen-SS erschossen. Etwa ab Juni 1942 wurden die Opfer auch in Gaswagen getötet.“

Ich bin entsetzt. Wie soll ich das dem über achtzigjährigen Mann erzählen? Ich kann es nicht und lenke ab, spreche von den Stolpersteinen zur Erinnerung an die Deportierten und Ermordeten und spüre, dass ihn das aufrichtet und stärkt. Ich suche alle Daten heraus und gebe ihm die Unterlagen. Nach einer Stunde verlässt er gefasst und ruhig mit seiner Frau und seinem Cousin die Ausstellungshalle. Und ich weiß, an diesem Ort der Erinnerung werde ich gebraucht.

Am Nachmittag besprechen wir die Vorbereitungen für die große Veranstaltung am 21.1.2018 zum Holocaustgedenktag im Rückert-Gymnasium. Es werden zwei neue Biografische Alben vorgestellt und das Biografische Album von Rahel R. Mann wird neu aufgelegt.

Pünktlich um 17:30 Uhr liest und erzählt Rahel R. Mann an jedem ersten Montag im Monat in der Ausstellungshalle „Wir waren Nachbarn“ aus dem 2013 erschienen Buch „Uns kriegt ihr nicht - 15 Geschichten von versteckten jüdischen Überlebenden“ von Tina Hüttl und Alexander Mensching. Rahel R. Mann wurde als Achtjährige in der Starnberger Straße 2 von der Hauswartfrau im Keller versteckt und überlebte den Naziterror im Berliner Versteck in Schöneberg. Sie ist eine Zeitzeugin, die offen ist für alle Fragen. „Ich bin Deutsche, aber meine Wurzeln sind das Jüdische. Die Tatsache, dass ich hier geboren bin, ist für mich eine Aufgabe, damit die anderen lernen, mit dem Fremden zu leben.“
 


Gestern-
ging ich mit
Kinderschuhen über
Kriegsleichen;
Morgen-
morgen werde ich
arbeitend die Zukunft versichern
scheinbar-
Heute-
Heute, unter dem Schutze
des blauen, unendlich harmonischen Himmels,
lebe ich,
lebe ich ganz
(aus: Das Ewige im Menschen, 1994)


Rahel R. Mann bedeutet es sehr viel, auch in Schulen Vorträge zu halten, und die emotionale und enge Beziehung zu Menschen hält sie jung.

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