Der Traum vom Frieden | Pankower Frauen erinnerten sich

Es ist mittlerweile schon fast 10 Jahre her, dass sich der Kulturring in einem seiner zahlreichen Projekte mit Frauenbiografien aus Berlin-Pankow beschäftigte. In vielen Interviews befragten Mitarbeiter*innen ältere Mitbewohner über ihr Leben. Daraus entstanden Geschichten – zuerst als eine Broschüre konzipiert – dann aber doch auf unterschiedliche Weise veröffentlicht. Der 75. Jahrestag der Befreiung vom nationalsozialistischen Terrorregime und gleichzeitig der Beendigung des Krieges sind ein Anlass, zwei der damals interwiewten Pankowerinnen auszugsweise erneut zu Wort kommen zu lassen.

Vera G., geboren 1924 in Pankow, erzählte uns 2010 über die letzten Kriegstage:

Seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges sind über sechzig Jahre vergangen. Denjenigen, die diese Zeit miterlebten, wird sie wohl immer im Gedächtnis bleiben. Jeder hat das Kriegsende anders erlebt, ob in Berlin, außerhalb Berlins oder sogar als Flüchtling aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien oder dem Sudetenland. Viele Berichte darüber hat man durch das Fernsehen erfahren, war erschüttert und möchte Krieg nie wieder erleben.

Als ich am Morgen des 21. April 1945 auf Umwegen in meiner Dienststelle, dem Reichsarbeitsministerium am Anhalter Bahnhof, eintraf, um meinen Dienst anzutreten, waren von Hunderten Kollegen nur ein paar erschienen, die beim Pförtner standen und debattierten. Berlin war schon von der Roten Armee eingeschlossen. Alle Bahnverbindungen nach und in Berlin waren inzwischen gesperrt und so machte ich mich zu Fuß vom Anhalter Bahnhof auf den Heimweg. Nach Stunden Fußmarsch kam ich in Niederschönhausen an und ging zuerst zur Feuerwache in die Blankenburger Straße, wo mein Vater seit 1939 beim Sicherheits- und Hilfsdienst eingezogen war. Als ich dort ankam, stand er mit seiner Hilfsdienst-Gruppe abmarschbereit. Sie wollten noch versuchen, aus Berlin herauszukommen, was ihnen auch gelang. Wie gern wäre ich mitgezogen. Wir nahmen Abschied, und ich versprach meinem Vater zur Feuerwache zu gehen und dort den Einmarsch der Russen abzuwarten. Ich war damals 20 Jahre alt und das einzige Kind meiner Eltern. Meine Mutter war am 20. Dezember 1944 in einer Nervenheilanstalt in Obrawalde/Polen verstorben. Wie wir 1946 erfuhren, war diese Anstalt einem KZ angeschlossen und alle Kranken wurden mit einer Todesspritze von den Nazis getötet.

Niederschönhausen hatte die weiße Fahne gehisst, wir hatten uns ergeben. Hinter einem Bretterverschlag lag ich mit meiner Freundin, die auch noch zu mir kam und dem 16-jährigen Mädchen von der Feuerwache versteckt auf alten Matratzen in unserem Luftschutzkeller. Davor saßen die alten Leute und die Mutter mit ihren 3 kleinen Kindern. Man fand uns nicht, als die Russen unseren Keller betraten und nach deutschen Soldaten suchten. Den Behinderten wollten sie erschießen. Sie hielten die Krücken für Gewehre. Dann sahen sie die weinenden Kinder und die verängstigte Mutter und die alten Leute. Der eine Russe ging weinend aus unserem Keller. Wir waren vorerst gerettet und blieben auch weiterhin verschont. Allmählich zogen wir 12 Personen vom Keller in unsere 2 1/2-Zimmerwohnung.

Am 2. Mai 1945 wurde ich frühmorgens durch eine Unruhe in unserem Garten geweckt. Hinter der Gardine am Fenster sah ich russische Soldaten durch unseren Garten eilen, Richtung Waldstraße. Dort begegneten sie deutschen Soldaten, die vom Gesundbrunnen kamen und glaubten, dass hier noch Kämpfe stattfanden und sich mit einer anderen Armee vereinen sollten. Es gab ein großes Blutbad in der Waldstraße, Ecke Altenberger Weg, das mit vielen Toten endete. Durch diese Umstände am 2. Mai 1945 wollten die Russen Niederschönhausen dem Erdboden gleich machen, weil man hier ein Widerstandsnest vermutete. Nur dem Einsatz unseres damaligen Dr. Kupke, der schon mit der russischen Kommandantur in Verbindung stand, war es zu verdanken, dass Niederschönhausen bestehen blieb.

Inzwischen ging das harte Nachkriegsleben weiter. Die totale Niederlage des National­sozialismus bedeutete für Deutschland einen Zusammenbruch, wie er in der Geschichte ohnegleichen ist. Jedes Wirtschaftsleben war erloschen, das absolute Chaos war da. Es gab kein Wasser aus der Leitung, kein Gas, kein Licht, keine Verkehrsmittel und keine geordnete Lebensmittelversorgung, alles blieb der Selbsthilfe des einzelnen überlassen.

Ruth K., geboren 1929 in Pankow, erinnert sich:

Das Schlimmste während des Krieges war, wenn ich bei den Fliegerangriffen auf Berlin allein in den Keller unseres Hauses musste. Wurden die Bomberwellen auf Berlin angekündigt, rief meine Mutter bei der Malerfirma auf unserem Hof an. Die hatten ein Telefon. Ich ging dann mit den Koffern in den Keller und hoffte und wartete, dass meine Eltern am Leben bleiben und gesund nach Hause kommen. Mein Vater arbeitete bei der BVG im Schichtdienst und meine Mutter bei der Post in der Dorotheenstraße in Mitte. Nach einem der vielen nächtlichen Bombenangriffe musste meine Mutter einmal von Mitte bis zu uns nach Pankow durch die zerbombte Stadt laufen. Sie kam völlig rußgeschwärzt und mit vertränten Augen an. Aber sie lebte.

Berlin wurde nun immer öfter bombardiert. Es war schrecklich. Ein normaler Keller des Hauses, in welchem wir wohnten, wurde zum Luftschutzkeller umgebaut. Die Kellerdecke wurde stabilisiert, so gut es ging, Stützbalken eingezogen und die obligatorische Luftschutztür eingebaut. Der Luftschutzwart kontrollierte nun, ob bei den Luftangriffen alle Hausbewohner im Keller waren, die Verdunkelung eingehalten wurde und genug Löschmittel auf dem Boden bereit standen. Auch wurden die Trennwände im Keller zwischen den Häusern und die auf dem Hof abgetragen. Diese Maßnahmen sollten die Fluchtmöglichkeiten der Bewohner erhöhen.An der Stelle des „Kaufland“ in Pankow heute befand sich damals das Kino „Palasttheater“. Ich weiß noch, dass ich den Film „Frau meiner Träume“ mit Marika Rökk erst beim dritten Kinobesuch zu Ende sehen konnte. Die Bomber haben uns immer wieder in die Luftschutzkeller getrieben.

In dieser Zeit schrieb ich folgende Zeilen:

Ein Traum

Mir war heut Nacht
ein großes Glück beschieden.
Ich hab geträumt wir hatten Frieden,
und alle Leute rannten nun wie toll.
Beim Fleischer war der ganze Laden voll
auch in den Bäckereien
war ein Leben und Treiben.
Der ganze Markenkram war aufgehoben
man sah die Leute mit gefüllten Taschen
schon auf der Straße
fingen viele an zu naschen.
Und in der Kneipe erst, da war ein Leben,
was man sich wünschte hat es gegeben
man hatte Würstchen, Schnaps,
Zigaretten und viel Bier,
auch Wein und guten Kuchen,
Bohnenkaffee gab es hier.
Es wurde getrunken, gegessen,
geraucht und gezahlt.
Ein jeder war glücklich
und hat meistens gestrahlt.
Auch ich goss einige Bier herunter
auf einmal wurde ich ganz munter,
es zog mich einer stürmisch am Arm und sagte:
„Steh uff, et is Fliegeralarm!“

Bei uns im Haus wohnte auch ein fanatischer Nazi, der zwei Söhne hatte. Diese wollten beim Einmarsch der Russen heißes Öl oder heißes Wasser aus dem Fenster schütten. Zum Glück konnte das unterbunden werden. Man hätte uns alle erschossen.

Als die Russen dann über die Höfe zogen, versteckte ich mich im Keller hinter großen Säcken. Der Mann, der bei uns im Haus seine Fleischerei hatte, war ein guter Mensch. Bei ihm arbeitete eine junge dienstverpflich­tete Polin. Sie hieß Claudia. Wahrscheinlich war sie auch in dem Gefangenenlager in der Schönholzer Heide interniert. Das weiß ich nicht genau. Als die Russen vor unserem Haus standen, ging sie vor die Tür und sprach lange mit ihnen. Niemandem von uns ist etwas passiert. Ich denke schon, dass wir das dieser jungen Frau zu verdanken haben. In den ersten Tagen nach Kriegsende half dieser Fleischermeister uns allen im Haus zu überleben. Er trennte große Fleischstücke von den frisch getöteten Pferdeleibern auf der Straße und kochte viele Tage für alle Hausbewohner Möhreneintopf mit Pferdefleisch.

Nach Kriegsende wurden sofort die russischen Lebensmittelkarten eingeführt. Ich besitze noch einige aus dieser Zeit. Der Hunger lief immer mit. Eine meiner Tanten bereitete aus Kartoffelschalen und Zwiebeln Bouletten. Die Kartoffelschalen wurden durch den Wolf gedreht und die Zwiebeln kleingeschnitten daruntergegeben. Dazu kam noch etwas Mehl. Das wurde dann gebraten und schmeckte auch fast wie Bouletten. Aber es war ohne Fleisch.

Die vollständigen Erinnerungen beider Frauen können Sie unter www.kulturring.berlin/erinnerungen ­lesen.

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