Es begann alles im April 2005. Zum Jubiläum 110 Jahre Karlshorst gab der Kulturring eine Broschüre mit geschichtlichen Beiträgen heraus, präsentiert von Lichtenbergs damaliger Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich, kurz darauf, im Juni, fanden sich die Geschichtsfreunde Karlshorst zu ihrer Gründungsversammlung im Kulturring zusammen. Seit wann gehörst Du zu den Geschichtsfreunden, und warum bist Du dabei?
Im Jahr 2014 wurde ich berentet und, ehrlich gesagt, fiel ich nach 45 Arbeitsjahren in ein tiefes Loch. Ich fand dann jemanden, der lange Gespräche mit mir führte und mich fragte: Was interessiert dich und warum machst du es nicht? Diese Gespräche führten mich zu den Geschichtsfreunden. Hier fand ich wieder Menschen mit gleichen Interessen. Sie zeigten mir Wege auf, wie man Neues über die Geschichte von Karlshorst findet. Dieses Interesse zur Ortsgeschichte hatte mein Heimatkunde-Lehrer Herr Litzke an der damaligen 2. Grundschule geweckt.
Sperrgebiet Karlshorst | Wolfgang Schneider über sein neues Buch und die Arbeit der Geschichtsfreunde
Es gab über lange Zeit Jahreskalender mit Karlshorster Themen und Motiven, es gab Ausstellungen und Vorträge, es gibt die Publikations-Reihe „Karlshorster Beiträge zur Geschichte und Kultur“, und es gibt jedes Jahr die Teilnahme am Tag des offenen Denkmals im September. Welche Themen sind für Dich besonders reizvoll?
Reizvoll sind für mich immer Themen, die noch nicht aufgeschrieben sind. Der ehemalige Leiter der Geschichtsfreunde Prof. Dr. Michael Laschke sagte zu mir: Wikipedia-Wissen braucht man nicht aufschreiben. Um Neues zu erfahren, musst du in die Archive gehen und alte Akten studieren. Und daran habe ich mich gehalten. Gegenwärtig arbeite ich so an der Geschichte des Biesenhorster Sandes: Vom Luftschiffhafen zum Flugplatz, zur Siedlung Biesenhorst, zur Planung des größten Güterbahnhofs der Welt, zur Realisierung eines kleineren Güterbahnhofs der DDR bis zum heutigen Naturschutzgebiet. Hat auch noch keiner aufgeschrieben. Dabei habe ich ein völlig unbekanntes Gedicht von Erich Weinert aus dem Jahr 1928 gefunden. Es hat noch keinen Eingang in die „Gesammelten Werke“ gefunden.
Im Jahr 2015 bist Du schon einmal als Autor in Erscheinung getreten. Das Buch unter dem Titel „standorte – Von der Luftschiffhalle zur Gartenstadt“ fand großen Anklang. Schon damals spielte das Miltärische bei Dir eine große Rolle. In dem neuen Buch greifst Du das Thema wieder auf. Was ist neu im „sperrgebiet“?
Das „Militärische“ ist eher Zufall. 2004 fand ich beim Einbau neuer Fenster alte Lieferscheine mit der Anschrift „Straße am Flugplatz“. Das weckte meine Neugier, denn von einem „Flugplatz“ in Karlshorst hatte ich noch nie gehört. 2015 erhielt ich einen Teil des Archivs von Dr. Günter Schmidt, Autor der Broschüre „Luftschiffe über Biesdorf“. Und so entstand die Broschüre „standorte“. Das Sperrgebiet ist auch ein Thema, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich bin seit 1957 Karlshorster, und das Sperrgebiet war einfach da. Man lebte am und mit dem Sperrgebiet. Erst später stellte ich mir die Frage: Warum sind sowjetische Soldaten hier? Antworten bekam ich in der Schule, die keinen Zweifel zuließen.
Genau 30 Jahre sind seit dem Abzug der zuletzt russischen, zuvor sowjetischen Besatzungstruppen aus Karlshorst vergangen. Braucht es so eine lange Zeit, um diese Periode mit einem gewissen Abstand zu betrachten?
Wenn man ein Archiv aufsucht und Akten aus dieser Zeit studiert, findet man in vielen Akten eine neue wichtige Information. Das sind die Akten des Bezirksamtes von Lichtenberg oder Akten des Ministerrates der DDR oder Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. Die ersten Akten hielt ich 2015 in den Händen und habe seit dieser Zeit mehrere hundert Akten gelesen. Es sind aber Tausende Akten in den Archiven vorhanden. Man braucht deshalb einen Punkt, an dem man Schluss macht. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen, wenn auch noch nicht alle Fragen beantwortet sind. Um Akten für die Öffentlichkeit verfügbar zu machen, brauchen die Mitarbeiter der Archive auch Zeit. Besonders deutlich wird das bei den CIA-Akten über Karlshorst. Sie sind generell mit einer Sperrfrist von 50 Jahren belegt. Die zurzeit verfügbaren Informationen enden 1960. Wir können also in der Zukunft weitere spannende Informationen erwarten.
Du hast beim Studium von Akten und Unterlagen viel erfahren, so auch von der Vertreibung von Bewohnern aus ihren Häusern, ja letztlich auch von Enteignungen. Kann man also in dem Zusammenhang von Unrecht sprechen, und ging es von den Sowjets aus oder von der DDR oder von beiden?
Die sowjetischen Truppen kamen 1945 aus einem durch deutsche Truppen verwüsteten Land. Ihr Verhalten im Feindesland kann man vielleicht so erklären, aber man muss es nicht verstehen. Die Bewohner von Karlshorst gingen durch ein Wechselbad der Gefühle, und jeder einzelne musste sich entscheiden, ob sie als Befreier oder als Besatzer kamen. Die Alliierten hatten bereits 1944 beschlossen, Deutschland in Besatzungszonen zu teilen und von Berlin aus gemeinsam zu verwalten. In allen vier Sektoren Berlins kam es 1945 zu Requirierungen von Wohnungen, Häusern und Einrichtungsgegenständen. Karlshorst hat da kein Alleinstellungsmerkmal. Das Unverständliche passierte dann nach der Übergabe der Immobilien durch die Sowjetunion an die Regierung der DDR. Die Regierung der DDR dachte gar nicht daran, die Immobilien den Eigentümern zurückzugeben. Man wollte sie selbst nutzen. Ein Grund lag auch darin, dass sich in den ehemaligen Gebäuden der sowjetischen Militärregierung Geheimdienste der Sowjetunion ansiedelten. Und die sowjetische Regierung verlangte von der DDR ein hohes Maß an äußerer Sicherheit. Und so konnte sich die DDR-Regierung rausreden: „Wir würden ja, aber die verlangen von uns …“
Mit dem Namen Karlshorst war auch immer die Arbeit der Geheimdienste verbunden. Du widmest Dich speziell auch diesem Thema in dem neuen Buch. Was gibt es da Spannendes zu erzählen?
Ich wollte zunächst nur dokumentieren: Welche Geheimdienste waren hier präsent. Und dabei bin ich auf die verschiedenen „kleinen Geschichten“ gestoßen die meist in Karlshorst begannen und dann große Präsenz in den Medien fanden. So die Geschichte des US-Sergeanten Robert Lee Johnson, der sich 1953 in Karlshorst vom sowjetischen Militärgeheimdienst GRU anwerben ließ und einer der gefährlichsten sowjetischen Spione bei der NATO wurde. Es muss nicht immer der starke und intelligente Spion James Bond sein, es reicht ein Mitglied der Wachmannschaft.
Was bewegt den Historiker, wenn er gerade heute, angesichts der Situation in der Ukraine, der jüngeren Generation von der Zeit des Krieges und der Besatzung nach 1945 berichtet? Gibt es auch bei den Geschichtsfreunden den Ansatz, gerade mit Fakten aus dieser Zeit, aber auch mit den Emotionen von Zeitzeugen, das Geschichtsbewusstsein zu stärken und die Alternativlosigkeit zu einem sicheren Frieden in einer neuen internationalen Sicherheitsarchitektur aufzuzeigen?
Frieden ist alternativlos. Deshalb zeige ich auch auf, was Krieg, was der Ruf nach Grenzveränderung mit sich bringt. Gerade deshalb beginne ich meine Broschüre mit den Folgen der Bombardierung von Karlshorst, mit den Toten beim Einmarsch der sowjetischen Truppen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf unsere gute Zusammenarbeit mit dem „Karlshorster Erzählkreis“ hinweisen. Hier kommen die Zeitzeugen von Krieg und Vertreibung zu Wort. Die Erzählungen darüber, das ist unsere Verpflichtung gegenüber der jüngeren Generation, die Krieg und Vertreibung nicht selbst erlebt haben.
Das Interview führte Ingo Knechtel
Wolfgang Schneider
das sperrgebiet - Karlshorst 1945-1994
Preis: 14 €
150 Seiten | ISBN 978-3-948427-00-9