Ich höre die Worte, eindringlich, sehr oft wiederholt, einen Text von Franz-Josef Degenhardt. Das Lied heißt „Wolgograd“, es wird gesungen von der bekannten Brecht-Interpretin Gina Pietsch. Ein Abend gegen die Kriege, am 8. Mai 2024, Berlin feiert den Tag der Befreiung. Ich höre Degenhardts Worte und muss an den Kulturring denken. Geradezu programmatisch zieht sich das mahnende Gedenken durch die 30 Jahre seiner Geschichte. Jüdisches Leben, jüdische Schicksale wurden lebendig, recherchiert und aufbereitet durch engagierte Mitarbeiter wie Thea Koberstein, Norbert Stein, Karin Bobke, Regina Girod, Reiner Lidschun und Otto Pfeiffer. Sie stehen für eine große Zahl weiterer Mitwirkender.
Nichts ist vergessen – und niemand. Das trieb den Verein an, als er 1997 vorschlug, in ein weiteres düsteres Kapitel jüngerer deutscher Geschichte einzudringen, die Verfolgung homosexuellen Lebens. Bis dahin unerschlossene Akten wurden im Berliner Landesarchiv entdeckt. Der Kulturring setzte sich das ehrgeizige Ziel, mit deren Hilfe Lebenswege und Schicksale homosexueller Männer im Berlin der Nazi-Zeit zu erforschen. Und die Forschenden wurden mit der schockierenden Tatsache von mehr als 700 Inhaftierten allein im Strafgefängnis Plötzensee konfrontiert, von denen dreißig hingerichtet worden waren. Das zu verarbeiten, bedeutete eine intensive und für die Mitarbeiter auch nervlich belastende Zeit. Rund 17.000 sog. Ermittlungsfälle wurden aufgespürt. Akten zu 2.046 Verfahren gegen 3.040 Beschuldigte wurden gesichtet. Nach nur zwei Jahren Recherchearbeit gab der Verein das Buch „… wegen der zu erwartenden hohen Strafe“ heraus. Die Autoren Gabriele Roßbach und Andreas Pretzel standen für ein Team von anfangs acht Mitarbeitern. Sie alle wollten diese Schicksale der Öffentlichkeit näherbringen und den Opfern wieder ein Gesicht geben. Zu viele Jahre waren seit dem Unrecht vergangen. Dr. Carola Gerlach und Andreas Pretzel gründeten folgerichtig zu diesem Zweck im September 2001 die AG Rosa Winkel. Im Jahr 2003 entstand die erste Ausstellung zum Thema „Ich ahne nun, dass die Luft ganz dick ist, Schicksale Homosexueller in Berlin-Mitte 1933–1945“, erarbeitet von einem Team um Ursula Meinhard. Ein neues Projekt mit Dr. Klaus Berndl als Kurator überarbeitete die Ausstellung mit berlinweiten Aussagen zur Homosexuellenverfolgung. Unter dem Titel „Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft. Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit“ wurden die neuen Tafeln erstmals 2006 im Deutschen Bundestag gezeigt, kurz danach in der Akademie der Künste als Hintergrundinformation für die Entwürfe des neuen „Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“ im Berliner Tiergarten. An Aktualität hat die Ausstellung nichts eingebüßt. Sie war inzwischen bundesweit an zwanzig Orten zu sehen, zuletzt vom 6.5. bis 8.6.2024 in der Stadtbibliothek Bremen. Durch zahlreiche Projekte in Berliner Bezirken, vor allem in Spandau und Charlottenburg, war sie in den Jahren zuvor ständig ergänzt worden. Die Rechercheinhalte der Projekte wurden auf die Schicksale lesbischer Frauen und später auch auf Verfolgungsbiografien transsexueller Menschen ausgeweitet. In mühevoller Kleinarbeit wurden in den Archivbeständen relevante Akten aus den Bereichen Fürsorgeerziehung, Justiz und Polizei gesucht, gelesen und ausgewertet. Bei all den vielen Details, den oft schwer zu lesenden und manchmal noch schwerer zu verstehenden Akten ist es für die nach wie vor engagiert tätigen Mitarbeiter wichtig, das eingangs gesteckte Ziel vor Augen zu haben: Das Leben von Menschen zu illustrieren, ihre Wünsche und Sehnsüchte deutlich zu machen und ihr heute undenkbares Leid uns allen nahezubringen.
Nichts ist vergessen – und niemand. Auch Stolpersteine sollen daran erinnern. Gunter Demnig steht für dieses einmalige Projekt. Auf Initiative des Kulturrings wurden Ende 2006 zwei Stolpersteine für schwule NS-Opfer in der Fußgängerzone zwischen Holzmarkt- und Ifflandstraße in Mitte verlegt, zur Erinnerung an Walter Boldes und Paul Küster. Der Jude Walter Boldes wurde am 2. Juli 1942 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode verurteilt und am 14.12.42 in Plötzensee hingerichtet. Sein Freund Paul Küster wurde wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und am 19.5.42 in Brandenburg/Görden hingerichtet. Den Richtern war der Tod „als Strafe“ aber nicht genug, sie wollten die Homosexualität ebenso an den Pranger stellen. Und so verhängten sie für beide auch noch mehrjährige Haftstrafen wegen „widernatürlicher Unzucht“.
Nichts ist vergessen – und niemand. Otto Jordan, Reinhold Höpfner, Willi Jenoch, Erich Bautz: Das sind die Namen von vier der Homosexualität beschuldigten Polizisten. Die Rote Armee hatte Berlin schon fast eingenommen, es war der 24.4.1945. Die Polizeiarrestanstalt Moritzstraße in Spandau hatte alle Insassen zum „Endkampf begnadigt“, bis auf die vier Männer. Beschuldigt wurden sie alle schwerer Vergehen nach § 175 StGB. Drei von ihnen waren noch nicht verurteilt, ja sie waren noch nicht einmal vernommen worden. Die Exekution erfolgte am Abend durch Genickschüsse. Als alle vier bereits in der Grube lagen, stellte der Arzt fest, dass einer von ihnen noch lebte. Der Wachtmeister kletterte in die Grube und schoss erneut. Am 13.4.2011, fast 66 Jahre später, werden die Ermordeten mit einer Gedenktafel am Gebäude des Polizeiabschnitts in der Spandauer Moritzstraße geehrt. Dies auf Initiative und nach umfangreicher Akten-Recherchen des Kulturrings. Weitere Nachforschungen brachten als Ergebnis 2017 die bis dahin unbekannte Verfolgungsgeschichte und den vollständigen Namen des Wachtmeisters der Luftschutzpolizei Erich Bautz zutage.
All die Informationen wurden und werden auch dieser Tage von den Mitarbeitern des LSBTIQ-Projekts beim Kulturring ausgewertet, mehrfach überprüft und tabellarisch erfasst. Die bislang über 11.000 Datensätze werden nach einer Endkontrolle zukünftig dem Landesarchiv Berlin am Eichborndamm zur Verfügung gestellt. Bernd Grünheid sorgt als Projektleiter auch nach dem Eintritt ins Rentenalter ehrenamtlich weiter dafür. Und was genauso wichtig ist: Koordinator Bernhard Korte und Geschäftsführer Armin Hottmann suchen ständig mit viel Ideenreichtum Unterstützer, die das Vorhaben weiter fördern. Der Kulturring will unbedingt dafür sorgen, dass dieser Schatz an Forschungsergebnissen nicht nur einfach zur Kenntnis genommen und dankbar abgelegt wird. Hier fühlt sich der Verein im Zuge einer neuen Initiative in Richtung Jugendbildung in der Verantwortung und möchte auch gern jüngere Menschen überzeugen, ihre Ideen einzubringen und mitzuwirken, um Forschungsergebnisse für andere erlebbar zu machen.
Während ich diesen Beitrag verfasse, lese ich eine Meldung in der Berliner Zeitung: Am Samstag, dem 25. Mai, wurde ein schwules Paar am S-Bahnhof Treptower Park angegriffen, beleidigt und geschlagen, nachdem es sich geküsst hatte. Der Tagesspiegel meldet einen deutlichen Anstieg der Hasskriminalität und speziell der Angriffe auf LGBTIQ-Personen. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann spricht von täglich mindestens sechs Angriffen. Die Statistik zeigt eine Verdoppelung der einschlägigen Straftaten von 2022 auf 2023. Es ist höchste Zeit, dem engagiert entgegenzutreten. Gerade wurden 75 Jahre des Grundgesetzes beklatscht und die Demokratie gefeiert. Artikel 3, der Antidiskriminierungs-Artikel, sollte aus meiner Sicht dringend reformiert und um die „sexuelle Identität“ ergänzt werden. Vielleicht ist es besser, nicht Lehrmeister für andere, sondern Vorbild zu sein. Schließlich geht es um die Menschenwürde des einzelnen, denn nichts ist vergessen – und niemand!
September 1997
Beginn des Projekts „Rosa Winkel” zur Erforschung der Geschichte der Homosexuellenverfolgung in Nazideutschland.
2000
Publikation der Forschungsergebnisse „Wegen der zu erwartenden hohen Strafe”
September 2001
Gründung der AG Rosa Winkel im Kulturring mit dem Ziel der Initiierung, Anleitung und Begleitung von Forschungsprojekten zur Homosexuellenverfolgung, Leitung Dr. Carola Gerlach
2003/2004
Ausstellung „Ich ahne nun, dass die Luft ganz dick ist ... Schicksale Homosexueller in Berlin-Mitte 1933-1945” im Museum Mitte und Kriminalgericht Moabit, Schirmherrschaft: Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit
November 2004
Andreas Pretzel von der AG Rosa Winkel präsentiert die Forschungsergebnisse der Kulturringmitarbeiter zum Thema „Homosexuelle vor dem Berliner Sondergericht“ auf einem Symposium über „Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit“ bei der NRW-Justizakademie in Recklinghausen.
April 2006
Ausstellung „Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft – Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit“ im Paul-Löbe-Hause des Deutschen Bundestages. Eröffnung durch den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse und den Kulturringvorsitzenden Dr. Gerhard Schewe.
2006 bis heute
Die Ausstellung wird ständig erweitert und an folgenden Orten gezeigt:
- Akademie der Künste, Pariser Platz, Berlin
- VHS Dortmund
- Brandenburgischer Landtag, Potsdam
- Rathaus Stuttgart
- Ev. Arbeitsstelle Nordpfalz/Rockenhausen
- Rathaus Berlin-Spandau
- Rathaus Leipzig
- Rathaus Berlin-Charlottenburg
- Dachverein Reichenstraße, Quedlinburg
- Rathaus Berlin-Treptow
- Rathaus Idar-Oberstein
- Seniorentreff Grünhöfe, Bremerhaven
- Rathaus Bremen
Dezember 2006
Auf Initiative des Kulturrings werden zwei Stolpersteine für schwule NS-Opfer in der Fußgängerzone zwischen Holzmarkt- und Ifflandstraße in Mitte verlegt, zur Erinnerung an Walter Boldes und Paul Küster. Eine Gedenkveranstaltung dazu findet am 24.1.2007 statt.
April 2011
Gedenktafel zur Ehrung von in den letzten Kriegstagen wegen ihrer Homosexualität im Polizeibarackenlager Pionierstraße ermordeten vier Polizeibeamten wird am Gebäude des Polizeiabschnitts 21 in der Spandauer Moritzstraße enthüllt.